In Deutschland dürften bald Tausende von Betreuerinnen pflegebedürftiger Menschen, die zuhause betreut werden, fehlen. Denn diese rund 300.000 meistens Frauen übernehmen in Deutschland einen erheblichen Teil der häuslichen Pflege, leben mit im Haushalt der Pflegebedürftigen – oft ohne Vertrag, erklärt Frederic Seebohm, Geschäftsführer des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege (VHPB).
Nur ein Zehntel der Betreuerinnen arbeitet legal und mit einem Vertrag in Deutschland. Viele von ihnen könnten bald nach einem Osterurlaub in der Heimat im Stau an den Grenzen Richtung Deutschland stranden oder angesichts der Infizierten-Zahlen nicht mehr in deutschen Haushalten die Pflegebedürftigen versorgen. Das Ergebnis: Zehntausenden von Pflegebedürftigen fehlt es dann mitten in der Corona-Krise an Unterstützung und Pflege.
„Wegen der Corona-Krise dürfen nur legal arbeitende Betreuerinnen einreisen. Die illegal in Deutschland Arbeitenden können natürlich keinen Vertrag vorweisen, der sie zur Einreise ermächtigt“, erklärt Seebohm. Hinzu kommt, dass illegale Betreuungspersonen keinen Krankenversicherungsschutz in Deutschland haben, was gerade angesichts drohender Virusinfektionen gefährlich ist.
Die meisten Betreuerinnen kommen aus dem EU-Land Polen. Viele von ihnen verlassen Deutschland aus Angst vor dem Virus. Andere dürften aus Verbundenheit und weil sie in der Heimat wohl mehrwöchige Quarantäne erwartet, lieber in Deutschland bleiben, meint der Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Michael Isfort von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) in Köln.
Der Druck auf das Pflegesystem steigt
„So oder so lässt sich sagen, dass damit zu rechnen ist, dass kurz- und mittelfristig einige Tausend Personen nicht mehr die gewohnte Hilfeform und Unterstützung in der eigenen Häuslichkeit organisieren können“, resümiert Isfort. „Das kann zu einem erheblichen weiteren Druck im Pflegesystem führen, das ohnehin aktuell mit der Corona Krise alle Hände voll zu tun hat.“
Klar, dass die Familien dann versuchen, ihre pflegebedürftigen Angehörigen in Pflegeheimen unterzubringen. „Es gibt rund 14.500 Häuser mit insgesamt 880.000 Plätzen, und sie haben in aller Regel eine Auslastung von deutlich über 90 Prozent. Und auch die anderen Plätze sind nicht immer frei, sondern es bestehen Wartelisten“, so Isfort.
Zwar sinke die Nachfrage nach Kurzzeitpflegeplätzen, weil die Familien nicht in Urlaub fahren, aber es bleibe beim grundsätzlichen Mangel, sagt Isfort. Die Corona-Krise sei „in erster Linie eine Pflegekrise“.
Der Bundesverband der privaten Anbieter sozialer Dienste (bpa) bestätig den Trend. „Pflegebedürftige, die bisher von osteuropäischen Haushaltshilfen versorgt wurden, fragen jetzt vermehrt bei unseren Pflegediensten an. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchen diese zu helfen“, so Uwe Dolderer, Sprecher des bpa zu Medscape.
Um der Misere abzuhelfen, schlägt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, vor: „Wir brauchen Krisenstäbe vor Ort, an die sich die Betroffenen wenden können. Hier ist unbürokratische Hilfe gefragt.“
Isfort sieht ein noch viel grundsätzlicheres Problem: Man brauche zunächst Hinweise darauf, in welchen Haushalten überhaupt Betreuungspersonen tatsächlich fehlen. „Was uns nicht passieren darf ist, dass man, wie in Spanien leider schon beobachtet, Häuser oder Wohnungen öffnet und dort Menschen findet, die sich nicht versorgen konnten, nicht versorgt wurden und deswegen zu Tode gekommen sind“, so Isfort zu Medscape.
Der Pflegewissenschaftler schlägt deshalb eine bundeseinheitliche Nummer vor, über die Angehörige, Zugehörige oder Nachbarn darüber informieren können, wo eine Betreuungskraft fehlt. „In anderen Ländern gibt es für solche Bereiche kommunale Casemanager der Pflege oder auch Quartiersmanager“, sagt Isfort. „In Deutschland haben wir bislang verpasst, diese Form des Community Health Nursing zu implementieren.“
Die Pflegekrise fordert den Gesetzgeber
Isfort fordert zudem den Gesetzgeber. Er könnte Angehörigen unterversorgter Pflegebedürftiger länger als die derzeit möglichen 10 Tage erlauben, zuhause zu bleiben. Isfort schlägt „mindestens 3 Wochen“ vor. So schaffe man den Familien immerhin etwas Luft.
Deutlich weiter gehen die Forderungen von Seebohm. „Wir brauchen ein Gesetz, die illegal in Deutschland Betreuenden zu legalisieren.“ Die betreuten Senioren hätten ein Recht darauf, ihren Lebensabend zuhause zu verbringen und auch dort zu sterben.
Die Betreuungspersonen aus Osteuropa seien längst systemrelevant. „Eine entsprechende Lösung hat man zum Beispiel in Österreich mit dem Hausbetreuungsgesetz gefunden“, sagt Seebohm. „Dort genießen die Betreuungspersonen und ihre Auftraggeber Rechtssicherheit, zahlen Steuern und sind sozialversichert.“
Das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BAS) hält nichts von Seebohms Vorschlag. Ein pauschales „Selbstständigen-Modell“ sei mit dem geltenden Recht nicht vereinbar, so Ministeriumssprecher Tim Stoltenberg auf Anfrage. Und mit Hinweis auf die legalen Arbeitsmöglichkeiten im Land: „Eine Absenkung der arbeits- und sozialrechtlichen Standards wird auch in Krisenzeiten nicht angestrebt.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Tausende häusliche Betreuerinnen fehlen – Pflege-Krise in der Corona-Krise - Medscape - 8. Apr 2020.
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