Bekannte Gesundheitsakteure fordern in Thesenpapier: Bessere Daten, gezielte Prävention – und wieder mehr Bürgerrechte!

Heike Dierbach

Interessenkonflikte

7. April 2020

So weit, so gut – aber sind die derzeitigen Maßnahmen gegen die SARS CoV-2-Pandemie wirklich die effektivsten? Und lassen sich die Ausgangbeschränkungen nicht doch lockern, ohne Risikogruppen zu gefährden?

Zu diesen Fragen haben 6 Experten aus unterschiedlichen Gesundheitsbereichen am Montag ein Thesenpapier veröffentlicht mit dem Titel „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“ [1].

Zu den Autoren gehören bekannte Akteure wie Prof. Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen, Prof. Dr. Matthias Schrappe von der Universität Köln (beide ehemalige Mitglieder im Sachverständigenrat Gesundheit) und Hedwig François-Kettner, ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit.

Den Autoren geht es dabei nicht um „Kritik an den handelnden Personen, die in den zurückliegenden Wochen unter den Bedingungen einer … noch unvollständigeren Information entscheiden mussten als dies heute der Fall ist.“ Vielmehr sehen sie ihre Thesen als „konstruktive Beiträge, um die Entscheidungen der kommenden Wochen zu unterstützen“.

An vielen Punkten benennt das Papier aber durchaus deutlich Schwachpunkte des bisherigen Vorgehens. Doch die Autoren schlagen meist auch geeignete Maßnahmen vor, um sie zu beheben. Dazu müssten aber mehr Disziplinen als bisher in die Debatte einbezogen werden, schlagen sie vor, nämlich auch Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft. Die Thesen im Detail (Auswahl):

1. Die Zahl der erfassten Infektionen ist nicht hinreichend für Entscheidungen.

Als erstes untersuchen die Autoren, in wie fern es überhaupt Sinn macht, sich an den Zahlen der gemeldeten Infektionen zu orientieren. Denn diese Zahl sei „in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst“. Wenn 2 Drittel der Infizierten, wie vermutet, keine Symptome haben und auch nicht getestet werden, liege die Zahl regelhaft deutlich zu niedrig. Zudem bilde sie nicht die aktuelle Lage ab, sondern jene von vor mehreren Tagen, da Testung und Übermittlung für eine mehrtägige Verzögerung sorgten.

In einer Modellrechnung gehen die Autoren von etwa 2 Wochen Verzug aus: Die Daten vom 17. März zeigten daher in Wirklichkeit das Geschehen von Anfang März. Und anstatt 8.000 gemeldeter Fälle kommen die Autoren (unter Einbeziehung auch der vermuteten Dunkelziffer) auf knapp 800.000 Infektionen am 17. März.

War in den letzten Tagen in der Politik immer wieder zu hören, die Verdopplungszeit müsse mindestens 14 Tage betragen, bevor man Lockerungen ins Auge fasse, meinen die Autoren: „Unter Berücksichtigung der anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sogenannten Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen.“

Als Alternative schlagen die Autoren die Untersuchung einer „Nationalen COVID-19-Kohorte“ vor, analog zur Nationalen Kohorte bei der HIV-Infektion in den 1980-er Jahren. Diese Stichprobe müsse mindestens 10.000 Personen umfassen, damit auch Menschen aus den Hochrisikogruppen entsprechend abgebildet werden.

Auf diese Weise könnten auch die (eventuell unerkannt) schon Geheilten – und damit Antikörper-Positiven – erfasst werden. „Es darf nicht vergessen werden: Die erschreckenden Zahlen zum Anstieg der Infizierten werden deutlich relativiert, wenn man die Zahl der Patienten bzw. Personen abrechnet, die die Infektion ohne oder mit beherrschbaren Krankheitszeichen überstanden haben.“

2. Die Sterblichkeit wird eher überschätzt.

Eine Sterblichkeit berechnet sich eigentlich entweder auf eine Grundgesamtheit (zum Beispiel 100.000 Personen) oder auf die Gesamtzahl der Infizierten. Abgezogen werden muss zudem die „natürliche“ Sterblichkeit (ohne COVID-19) und jene, die auf andere Erkrankungen zurückzuführen ist (denn auch ohne das Virus sterben hochbetagte Menschen häufiger an einer Lungenentzündung).

Aber: „Es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist“, bemängeln die Autoren. Das Robert Koch-Institut (RKI) beziehe sich auf die Zahl der gemeldeten Infektionsfälle, die aber vermutlich, wie bereits erläutert, viel zu niedrig liege. Noch dazu werde bisher nicht genau erfasst, ob ein Infizierter an COVID-19 gestorben sei oder nur mit COVID-19, da der positive Virusnachweis ausreiche, um in die Todesstatistik aufgenommen zu werden.

Die Autoren schlagen vor, dass 3 Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Todesfall als COVID-19-Toter gezählt wird: der Nachweis des Virus, der Tod des Patienten und ein spezifisches Krankheitsbild – etwa eine interstitielle Pneumonie als Hauptkriterium oder das Vorliegen von mindestens 2 Nebenkriterien. „So ist man z.B. auch bei AIDS vorgegangen.“

3. SARS-CoV-2 wird zu einer nosokomialen Infektion.

Zwar entstehe langsam ein Bewusstsein, dass in Kliniken und Pflegeeinrichtungen ein erhöhtes Übertragungsrisiko bestehe, so die Autoren. „Aber es fehlt die letztlich definitive Aussage, dass es sich bei dieser Pandemie um eine zumindest in Teilen nosokomiale Infektion handelt, bei der den Institutionen des Gesundheits- und Pflegesystems eine zentrale Bedeutung in Ausbreitung und Dynamik zukommt.“

 
Es fehlt die letztlich definitive Aussage, dass es sich bei dieser Pandemie um eine zumindest in Teilen nosokomiale Infektion handelt … Thesenpapier
 

Fehlendes Personal, fehlende Schutzmaterialien und unzureichende Testungsmöglichkeiten erschwerten hier maßgeblich die Aufrechterhaltung einer „adäquaten Sorgfalt“ im Versorgungsprozess.

4. Die Wirksamkeit verschiedener Präventionsmaßnahmen ist theoretisch schlecht gesichert.

Nach Ansicht der Autoren zeigen sich keine großen Unterschiede im Verlauf der Infektionszahlen oder Letalität zwischen den Ländern, obwohl einige deutliche rigidere Maßnahmen getroffen haben als andere. „So lässt sich insbesondere nicht ablesen, dass es mit stärkerer Einschränkung bis hin zum Shutdown zu einer deutlich verzögerten Ausbreitung käme, als wenn man ‚nur‘ niedriggradigere Empfehlungen z.B. zum Social Distancing gibt.“

Die Autoren räumen allerdings ein, dass es hier keine echte Vergleichsgruppe gibt: „Man weiß nicht, welchen Verlauf die Infektionszahlen genommen hätten, wenn man keine Maßnahmen ergriffen hätte.“ Sollten aber die Ausgangsbeschränkungen nach einer gewissen Zeit nicht die erwünschte Wirkung zeigen, gelte die Empfehlung des Deutschen Ethikrates, nach der diese dann keine Legitimität mehr hätten.

Denkbar sei auch, dass die Maßnahmen nur zeitlich paradox wirkten: „Umso wirksamer das ‚Abflachen der Kurve‘ ist, umso wahrscheinlicher ist das Auftreten neuer Wellen nach Lockerung der Maßnahmen, weil in der vorangegangenen Welle eine relevante Immunität der Bevölkerung nicht erreicht werden konnte“, argumentieren sie.

Dabei könne der nächste Winter bedeutsam werden, „vor allem wenn zusätzliche negative Einflüsse durch die Verschlechterung der sozialen Lage und der Ernährungssituation nicht auszuschließen sind.“ Auch die Beschränkung sozialer Kontakte und eine höhere Arbeitslosigkeit würden „ein relevantes Morbiditätsrisiko“ bedeuten.

5. Die bisherigen Maßnahmen sind eindimensional.

Die Autoren machen bisher die „unterschiedslose Beschränkung der persönlichen Kontakte“ als vorherrschende Maßnahme aus, um die Pandemie zu kontrollieren. Es sei aber „aufgrund der Komplexität nicht zielführend“, nur darauf zu setzen. So sei etwa nicht nachvollziehbar, warum sich Kinder und Jüngere nicht frei bewegen können, „zumindest solange sie ältere Personen oder solche mit Prädispositionen nicht kontaktieren“. Zumal, wenn sich diese Gruppe im Verlauf der Epidemie aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem Fall anstecken werde. 

In Zukunft brauche es daher vielmehr „zielgerichtete Präventionsstrategien“ für die Hochrisikogruppen, vor allem in Kliniken und Heimen, inklusive des Personals. Dabei könnten Kenntnisse und Strategien aus dem Infection-control-Bereich genutzt werden. Die Autoren nennen eine Reihe von konkreten Schutzmaßnahmen wie gepooltes Testen der Gesamtheit der Mitarbeiter einer Einrichtung oder die vorausgreifende Einrichtung von getrennten Versorgungsbereichen.

Beim Auftreten von lokalen Clustern müsse sofort ein Expertenteam verfügbar sein: „Diese Einsätze müssen durch gesetzliche Maßnahmen legitimiert sein und dürfen nicht durch Kompetenzüberschneidungen gehemmt werden.“ Wenn diese zielgerichteten Strategien implementiert sind, könnten die Beschränkungen für die Nicht-Risikogruppen gelockert werden.

6. Soziale und juristische Folgen müssen mitbedacht werden.

Die Autoren betonen, dass in der aktuellen Krise eben nicht „alle gleich“ seien: „Weder die ökonomischen Lasten (Verdienstausfall) noch die psychosozialen Einschränkungen (faktische Ausgangssperre für Familien in kleinen Wohnungen vs Einfamilienhaus mit Garten, Problematik der innerfamiliären Gewalt etc.) oder die Fähigkeit, die Kinder über einen längeren Zeitraum selbst zu unterrichten (…) sind gleich verteilt.“

 
Für die europäischen Demokratien muss daher der nicht verhandelbare Grundsatz gelten, dass die demokratische Gesellschaftsform nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden darf. Thesenpapier
 

Auch die Chancen von Behinderten oder betreuungspflichtigen alten Menschen seien deutlich stärker eingeschränkt. Komme es zu einer längeren wirtschaftlichen Krise, sei zu erwarten, „dass sich die genannten Konflikte mittelfristig weiter verschärfen.“

Besorgt äußern sich die Autoren auch über die juristischen Entwicklungen in Folge der Krise, etwa durch die aktuelle Novellierung des Infektionsschutzgesetzes. Dadurch werde dem Bundesgesundheitsminister „eine fast uneingeschränkte Verfügungsgewalt über staatliche Organe und die Einschränkungen der Bürgerrechte zugesprochen, die auf dem Verordnungswege ausgeübt werden kann.“ Eine parlamentarische Kontrolle sei abgesehen von der Feststellung der Pandemie nicht (mehr) vorgesehen.

Zwar begrüßen die Autoren die Einbeziehung von wissenschaftlichen Erkenntnissen durch die Politik. Diese dürfe jedoch nicht den politischen Charakter von Entscheidungen in Frage stellen. „Für die europäischen Demokratien muss daher der nicht verhandelbare Grundsatz gelten, dass die demokratische Gesellschaftsform nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden darf.“

 

Kommentar

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