Ist Adipositas ein größerer Risikofaktor für COVID-19-Patienten als Diabetes? Prof. Dr. Stephan Martin diskutiert die neuen Studienergebnisse, die ihm Sorgen machen.
Transkript des Videos von Prof. Dr. Stephan Martin, Düsseldorf
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte heute darüber berichten, wie stark COVID-19 und Adipositas assoziiert sind. Ein sehr spannendes Thema, das auch noch nicht so prominent durch die Medien gegangen ist. Hierzu sind in den letzten Tagen interessante Publikationen erschienen.
Adipositas als Risikofaktor für schwere COVID-19-Verläufe
Ich bin auf das Thema aufmerksam geworden, weil Peter van der Voort, ein Intensivmediziner aus Groningen, und sein Kollege in einem TV-Interview erzählt haben, dass bei ihnen auf den Intensivstationen sehr viele – 66 bis 80% – der schwer kranken COVID-19-Patienten übergewichtig oder adipös sind.
Die Frage ist, ob dies ein holländisches Phänomen ist, oder ob es sich auch in der Literatur widerspiegelt.
Betrachtet man die bislang publizierten Arbeiten, von denen sehr viele aus China stammen, findet man viele Publikationen, bei denen das Thema Übergewicht, Diabetes oder auch Blutzuckerwerte gar nicht erwähnt sind. Da geht es nur um Lungenerkrankungen oder um Infektionsparameter.
Als Diabetologe werde ich auch permanent von den Patienten gefragt, wie hoch ihr Risiko sei. Gerade Typ-1-Diabetiker sind sehr besorgt, weil überall steht, dass Diabetiker ein hohes Risiko haben.
Chinesische Studie bestätigt schweren Verlauf
Zum Thema Adipositas ist eine Arbeit in Lancet Infectious Diseases als Preprint erschienen [1]. Es wurden hospitalisierte Patienten in einem Krankenhaus in Shenzhen, China konsekutiv untersucht und geprüft, wer schwer an COVID-19 erkrankte.
Von den 387 Patienten haben 91 (27%) eine schwere Lungenerkrankung entwickelt. 33 Patienten waren Frauen, 58 Männer. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass das Risiko für einen schwereren Verlauf von COVID-19 bei Männern höher ist.
In China beginnt Adipositas schon bei einem BMI ab 28 kg/m², nicht wie bei uns bei einem BMI von 30 kg/m². In der Studie hatten Personen mit einem BMI über 28 kg/m² ein 2,4fach erhöhtes Risiko für eine schwere Pneumonie. In der Tabelle der Publikation ist angegeben, dass das Risiko 3,4fach erhöht ist, ich vermute, dass das ein Fehler ist. Das zeigt aber, wie im Moment mit heißer Nadel Publikationen gestrickt werden.
Männer mit einem BMI über 28 kg/m² hatten ein 5,7fach erhöhtes Risiko für eine schwere Pneumonie, bei Frauen war das Risiko nicht erhöht.
Adipöse Männer haben also in China ein deutlich erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf der Infektion.
Wie sieht es in Deutschland aus?
Im Deutschen Ärzteblatt ist aktuell eine Arbeit aus der Universität Aachen publiziert worden [2]. Aachen ist nicht so weit von Heinsberg entfernt. In der Arbeit sind die klinischen Charakteristika der ersten 50 in der Uniklinik Aachen hospitalisierten Patienten mit (n = 24) und ohne „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) beschrieben.
Patienten, die ein ARDS entwickelten, waren im Vergleich zu Patienten ohne ARDS mit 58% vs. 42% häufiger respiratorisch vorerkrankt. Eine respiratorische Vorerkrankung bedeutet ein 1,4fach erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf.
Übergewicht und Adipositas lag bei 83% der Patienten mit ARDS und bei 42% ohne ARDS vor. Adipositas erhöht das Risiko für einen schweren Verlauf 2-fach, Übergewicht 1,2-fach. Dies bestätigt die Daten aus Shenzhen und aus Holland: Adipöse Patienten scheinen ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19 zu haben.
Eine 3. große Analyse kommt von den amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Dort hat man gleich zu Beginn der Infektionen ein Hospital Surveillance Network aufgebaut, in dem alle hospitalisierten Patienten mit COVID-19 erfasst werden. In der ersten publizierten Analyse sind die Daten von 1.482 Patienten aufgeführt [3].
74,5% der Patienten waren über 50 Jahre alt. 54,4% waren Männer. 90% der Patienten hatten chronische Vorerkrankungen. Bei Patienten über 65 Jahren war die arterielle Hypertonie mit 72% die häufigste Komorbidität.
Arterielle Hypertonie ist damit der häufigste Risikofaktor für eine Hospitalisierung, an 2. Stelle kommen kardiovaskuläre Erkrankungen und an 3. Stelle steht bei den über 65jährigen mit 41% die Adipositas.
Ein Diabetes lag nur bei 30% vor. Bei Diabetikern scheint die diabetische Erkrankung also gar keine so ausgeprägte Rolle zu spielen, sondern eher die anderen Erkrankungen.
Bei jüngeren Patienten war interessant, dass 72% der hospitalisierten Personen im Alter von 18 bis 50 Jahren adipös waren. Nur etwa 20% litten an einem Diabetes.
Hier sehen wir erneut, dass die Adipositas wahrscheinlich ein ganz besonderer Risikofaktor ist.
Adipositas, ACE2 und COVID-19
Ist COVID-19 etwas Besonderes bei Adipösen? Man könnte das mit „Ja“ beantworten, weil der ACE2-Rezeptor, an den das Virus bindet, sich auch im Fettgewebe befindet. Die ACE2-Rezeptor-Expression im Fettgewebe wird besonders stark durch Fruktose hochreguliert [4]. Ernährungskomponenten scheinen also auch eine Rolle zu spielen.
Wir müssen aber sehr vorsichtig sein, denn auch bei Influenza haben adipöse Personen ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Verlaufsformen. Dazu gibt es sehr viele Publikationen.
Personen mit schwerer Adipositas haben ein eingeschränktes Lungenvolumen, sie leiden häufig unter chronischen Lungenerkrankungen. Außerdem stellt das Fettgewebe eine chronische Inflammation dar, stark adipöse Personen haben also schon subklinisch eine Inflammation. Kommt noch ein Virus dazu, explodiert das gesamte Immunsystem. Auch dazu gibt es ganz interessante Arbeiten.
Für unsere Patienten gilt, dass Diabetes vielleicht gar nicht so die große Rolle als Risikofaktor spielt. Ganz entscheidend ist die Adipositas. Deshalb müssen wir Patienten mit einem BMI über 30 kg/m² vor einer Ansteckung warnen. Wir müssen ihnen raten, dass sie sich etwas stärker zurück nehmen, dass sie sich schützen und dass wir sie auch schützen.
Ich hoffe, das war für Sie interessant und hilft Ihnen in der täglichen Praxis.
Alles Gute und bleiben Sie gesund!
Ihr Stephan Martin
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Diesen Artikel so zitieren: Erste Studien: „Adipositas ist wahrscheinlich ein ganz besonderer Risikofaktor“ für den Verlauf einer COVID-19-Erkrankung - Medscape - 20. Apr 2020.
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