MEINUNG

„Junge Ärzte machen ihr Testament“: Wie die US-Regierung Ärzte und Pflegende in der Corona-Krise im Stich lässt

Eric Topol

Interessenkonflikte

3. April 2020

Viele Ärzte, die in der COVID-19 Versorgung arbeiten, haben nicht die Möglichkeit, über das erlebte und die Missstände zu sprechen. Mit diesem Kommentar prangert der Chefredakteur von Medscape Global, der Kardiologe Prof. Dr. Eric J. Topol, der zu den 10 meistzitierten Wissenschaftlern in der Medizin gehört, die Missstände in seinem Land, den USA, offen an. Er schildert die Versäumnisse der Politiker und wie jetzt Ärzte und Pflegepersonal diese nun ausbaden und manchmal sogar dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Kurz vorweg: Wir bieten auch unseren Lesern und Kollegen an, mitzureden

In Deutschland kämpfen Ärzte genauso mit Materialmangel, Stress und dem Gefühl, mit vielen Ihrer Probleme nicht genügend Gehör zu finden. Erst gestern hat die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass sich laut Robert-Koch Institut in Deutschland bereits 2300 Ärzte und Pfleger mit SARS-CoV-2 angesteckt haben. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Wir wollen als großes Publikationsmedium für Ärzte und Gesundheitsberufe Ihnen ein Forum bieten und Sie zu Wort kommen lassen.

Schreiben Sie uns, was Sie in diesen Wochen der Corona-Krise bewegt! Schicken Sie uns eine Mail an redaktionsteam@medscapedeutschland.de. Oder nehmen Sie an unserer neuen Mini-Umfrage teil – die Sie unter diesem Link finden – und deren Fragen Sie vielleicht anregen, Ihre Eindrücke zu notieren. Sie können aber auch die Kommentarfunktion des Artikels nutzen, um Ihrem Herzen Luft zu machen!

Wir wollen wissen, was Kollegen an der Corona-Front bewegt und welche Probleme am meisten drücken. Wir freuen uns auf Ihre Berichte.

Hier der Lagebericht unseres Chefredakteurs Prof. Dr. Eric Topol aus den USA:

Die diesjährige Erhebung zum Thema Burnout und Suizid im Gesundheitswesen in den USA („National Physician Burnout & Suicide Report“) weist neue Rekordzahlen für Depressionen und Suizide unter Ärzten und Pflegern auf. Das betrifft jedoch nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern reiht sich in ähnliche Befunde auf der ganzen Welt ein. Es gibt eine globale Burnout-Epidemie im Gesundheitswesen. Aber in den USA sind die Dinge drauf und dran, sich noch weit mehr zu verschlimmern.

Prof. Dr. Eric Topol

Im Dezember 2019 brach bekanntlich im chinesischen Wuhan eine Epidemie von Lungenentzündungen mit vielen Todesopfern aus. Der Erreger wurde isoliert und am 5. Januar 2020 sequenziert. Er wurde als neuartiges Coronavirus klassifiziert und erhielt den Namen SARS-CoV-2.

Der erste US-amerikanische COVID-19-Patient, so der Name der durch SARS-CoV-2 verursachten Krankheit, wurde am 21. Januar in Seattle identifiziert, d.h. keine 24 Stunden nach dem ersten südkoreanischen Patienten, was für den Vergleich zwischen den verschiedenen Ländern ein wichtiger Maßstab ist (s. Abb.; nach „Our World in Data“).


Abb. 1 COVID-19-Testungen in den USA und in Südkorea.

Phase 1: Die „stille“ Ausbreitung in den USA

Im Gegensatz zu Südkorea, das alsbald damit begann, die Menschen mit dem Test-Kit der WHO auf COVID-19 zu untersuchen, lehnten die USA diesen Test ab und wollten stattdessen von den CDC einen eigenen entwickeln lassen. Aber der dabei entstandene Test erwies sich letztlich als fehleranfällig, was nur einer der vielen Stolpersteine auf dem Weg der US-Regierung war. Ohne einen adäquaten Test vergingen so fast 50 Tage, bevor in den USA mit einer angemessenen Testung der Bevölkerung begonnen wurde. Warum war das so entscheidend?

 
Die USA haben von alldem nichts getan. Dr. Eric Topol
 

In dieser langen Zeit gab es unzählige US-Bürger, die mit Lungenentzündung und Atemwegssymptomen in den Notaufnahmen, Notfallzentren und Arztpraxen des Landes behandelt wurden. Ohne die Möglichkeit, die Diagnose COVID-19 zu stellen oder auch nur den Verdacht auf eine solche Infektion aufkommen zu lassen, verbreiteten die Betroffenen den Erreger unwissentlich an das medizinische Personal, mit dem sie in Kontakt waren.

Auch während dieser ersten Phase gab es wahrscheinlich – wenn auch noch nicht validiert – eine hohe Rate asymptomatischer Virusträger (schätzungsweise rund 30%), was die Risiken einer Infektion für Ärzte und das medizinische Personal weiter erhöhte.

Nur zum Vergleich: Im Februar führte Südkorea über 75.000 Tests durch (gegenüber 352 in den USA) und adaptierte alle bewährten Verfahren der WHO, also massive Testungen, die Rückverfolgung jedes Kontakts einer infizierten Person und die Untersuchung dieser Person, die Quarantäne aller bekannten Fälle und das Abstandsgebot (social distancing).

Die USA haben von alldem nichts getan. Stattdessen wurden immer wieder falsche Entscheidungen getroffen, welche die öffentliche Gesundheit und auch das medizinische Personal und die Fachkräfte, die mit ihrer Versorgung und Betreuung beauftragt sind, gefährdeten.

Südkorea kam derweil dem unkontrollierten Ausbruch zuvor und wurde in der Welt zu einem Vorbild dafür, wie das erreicht werden kann. Aber nicht nur Südkorea reagierte gut. Wie der US-amerikanische Chirurg und Autor Dr. Atul Gawande schilderte, übernahmen Singapur und Hongkong ebenfalls alle WHO-Empfehlungen einschließlich des Schutzes der Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Dort wurde auch erwartet, dass das medizinische Personal bei allen Interaktionen mit den Patienten chirurgische Masken trägt. Die Nichtumsetzung dieser Praxis erwies sich als Grund für das abermalige Scheitern der USA in der 2. Phase.

Phase 2: Krieg ohne Munition

Obwohl es in Seattle einen ersten Corona-Cluster gab, war es die außer Kontrolle geratene hohe Zahl von Patienten, die Anfang März in New York City als infiziert diagnostiziert wurden und zu der schockierenden Erkenntnis führten, wie schlecht das Land mit persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Intensivbetten und mechanischen Beatmungsgeräten ausgestattet ist.

 
Auf einigen Intensivstationen wird sogar versucht, 2 Patienten mit einem Beatmungsgerät zu versorgen. Dr. Eric Topol
 

Der gravierende und unerklärliche Mangel an Masken wurde in einem New-York-Times-Artikel von Farhad Manjoo auf den Punkt gebracht („How the World's Richest Country Ran of a 75-Cent Face Mask“), und Dr. Megan Ranney und ihr Team schilderten in ähnlicher Weise im New England Journal of Medicine die tief greifenden Defizite bei PSA und Beatmungsgeräten.

So entstand also eine Situation, in der das ärztliche und das Pflegepersonal jetzt keine Atemschutzmasken hat – oder sie über mehrere Tage trägt – und auch keine andere Schutzausrüstung zur Verfügung steht. Wir reden hier von normalen chirurgischen Masken und nicht von den N95-Masken, die Aerosole deutlich besser abhalten.

Aber nicht nur das medizinische Personal muss sich das Equipment teilen. Auf einigen Intensivstationen wird sogar versucht, 2 Patienten mit einem Beatmungsgerät zu versorgen. In Zahlen ausgedrückt heißt das, dass die USA mehrere Hunderttausend bis eine Million Beatmungsgeräte benötigen. Doch verfügt das ganze Land über nicht einmal 160.000.

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass die USA völlig unvorbereitet und derart unterversorgt mit den erforderlichen Ressourcen in eine solche Pandemie hineinrutschen. Ärzte und Pflegende, die ihre Bedenken geäußert haben, werden auch noch von den Behörden geknebelt und mundtot gemacht, und wenn sie ihre Stimme erheben, müssen sie mit Benachteiligungen und sogar Entlassungen rechnen.

In der Zwischenzeit hat sich der sträfliche Mangel an COVID-19-Tests in dieser zweiten Phase fortgesetzt. Eine systematische Prüfung der Klinikbelegschaften hat noch nicht einmal begonnen und wäre doch so dringend nötig.

Phase 3: Medizinisches Fachpersonal zu großen Teilen infiziert – mit Todesfällen

Zurück nach Wuhan – Der 33-jährige Opthalmologe Li Wenliang war einer der ersten Ärzte, wenn nicht gar tatsächlich der Erste, der in China vor dem Ausbruch warnte. Er starb am 7. Februar 2020. Aber er war sicherlich nicht der jüngste verstorbene Mediziner Chinas. Der 29-jährige Gastroenterologe Xia Sisi starb ebenfalls nach einem 35-tägigen Krankenhausaufenthalt.

Präsident Trump erklärte jedoch noch am 11. März aus dem Oval Office: „Junge und gesunde Menschen können erwarten, sich vollständig und schnell zu erholen.“

Ende März waren in Italien bereits 54 Ärzte gestorben, und in der Lombardei in Norditalien, einer der am schlimmsten von der Seuche betroffenen Regionen weltweit, wurde bei 20% der Beschäftigten im Gesundheitswesen eine Infektion bestätigt. Nachdem in den USA inzwischen in Corona-Hotspots wie z.B. Boston oder New York medizinische Fachkräfte in großer Zahl an COVID-19 erkrankt sind, machen junge Ärzte ihr Testament und sicherheitshalber Pläne für Beerdigungen.

 
Der Umgang mit der COVID-19-Pandemie in den USA wird in die Geschichte des Landes als die schlimmste Katastrophe in der medizinischen Versorgung eingehen. Dr. Eric Topol
 

Junge Menschen sollten COVID-19 angeblich nicht zum Opfer fallen. Doch in den USA sterben auch junge Pflegende und Ärzte daran. Es gibt über die Gründe dafür zahlreiche Theorien. Am ehesten scheint wohl die tatsächliche Viruslast als Erklärungsansatz zu taugen, also die Menge der tatsächlich aufgenommenen Viren.

Da das medizinische Fachpersonal den am schlimmsten betroffenen Patienten gegenübersteht und oftmals keinen Zugang zu geeigneter Schutzausrüstung hat, kann eine schwere Viruslast selbst junge Menschen in den Kliniken damit überfordern, eine ausreichende Immunreaktion gegen die Infektion aufzubauen.

Dass Ärzte und Pflegende dem Virus erliegen, ist mehr als tragisch. Denn viele dieser engagierten Personen sterben unnötigerweise an den Folgen der ausgebliebenen Testungen und wegen fehlender Schutzausrüstung.

Ein zahlenmäßig weitaus größerer Tribut ist jedoch der vorübergehende Ausfall von Ärzten und Pflegenden infolge von Infektionen und Covid-19-Erkrankungen. Dies ist die andere vernachlässigte exponentielle Wachstumskurve: Da sich jeder Arzt, Pflegende, Atemtherapeut, Sanitäter und Patientenbetreuer um Dutzende bis Hunderte Patienten kümmert, hat der Verlust auch nur einer dieser Fachkräfte einen dramatischen Kaskadeneffekt auf den Mangel an Personen, die für die Betreuung der betroffenen Patienten ausgebildet sind, zufolge.

Natürlich ist davon auch das übliche Patientenkollektiv, das unter etwas anderem als COVID-19 leidet, betroffen. Und wenn man, wie angekündigt, die anstehenden Abschlüsse in den medizinischen Berufen auch noch so beschleunigt, lassen sich diese Verluste nicht ausgleichen – nicht numerisch und erst recht nicht im Hinblick auf die verlorene Erfahrung.

Der Umgang mit der COVID-19-Pandemie in den USA wird in die Geschichte des Landes als die schlimmste Katastrophe in der medizinischen Versorgung eingehen. Der Verlust an Menschenleben wird 9/11 und viele andere Katastrophen weit hinter sich lassen. Vielleicht wird uns Medizinern dabei am stärksten in Erinnerung bleiben, wie der Staat uns verraten hat, als die Menschen uns am meisten brauchten.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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