COVID-19-Eindämmung: Könnten repräsentative Stichproben-Tests in der Bevölkerung wichtige Daten zur Ausbreitung liefern?

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

31. März 2020

Deutschland hat mit Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverboten weitreichende Maßnahmen durchgesetzt, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen. Doch ist die Strategie wirklich erfolgreich? Das weiß derzeit niemand wirklich so genau.

Denn Wissenschaftler brauchen verlässliche Zahlen. Genau hier liegt das Problem, und zwar aus 2 Gründen:

  • Die gemeldeten Fälle werden nur zeitverzögert übertragen.

  • Deutschland testet zu wenige Menschen.

Diese Strategie kritisieren einige Experten. Sie fordern repräsentative Stichproben in der Bevölkerung, wer infiziert ist und wer nicht.

COVID-19: Der Wochenend-Effekt

Tag für Tag veröffentlicht das Robert Koch-Institut neue Zahlen zu SARS-CoV-2. Stand 30. März 2020, 8:00 Uhr waren es 57.298 Infizierte und 455 Todesfälle. Doch die Angaben sind nicht ohne Schönheitsfehler, wie ein Blick auf Analysen des Statistikportals Worldometers verrät: Es nannte 62.435 Infizierte und 541 Todesfälle in Deutschland, dies am 30. März 2020, 7.35 Uhr.

Zudem gab es laut RKI am 22.03. (Samstag) und am 23.03. (Sonntag) vermeintlich niedrigere Raten. Doch die Hoffnung war trügerisch. Ab Montag ging es wieder sprunghaft nach oben. Wie lässt sich all das erklären?

Normalerweise erhält ein Gesundheitsamt Meldungen zu bestätigten SARS-CoV-2-Infektionen. Es leitet die Information an das zuständige Landesamt weiter. Von dort gehen Daten an das RKI – und landen am Folgetag in der offiziellen Statistik. Das funktioniert nicht immer. „Aktuell sind die Gesundheitsämter schnell. Einige übermitteln am gleichen Tag und auch am Wochenende, aber eben nicht alle“, sagt RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar Wieler.

 
Aktuell sind die Gesundheitsämter schnell. Einige übermitteln am gleichen Tag und auch am Wochenende, aber eben nicht alle. Prof. Dr. Lothar Wieler
 

„Für die Darstellung der neu übermittelten Fälle pro Tag wird das Meldedatum verwendet – das Datum, an dem das lokale Gesundheitsamt Kenntnis über den Fall erlangt und ihn elektronisch erfasst hat“, schreibt das RKI im Disclaimer seines neuen Daten-Dashboards. „Zwischen der Meldung durch die Ärzte und Labore an das Gesundheitsamt und der Übermittlung der Fälle an die zuständigen Landesbehörden und das RKI können einige Tage vergehen.“ Summiert man die Inkubationszeit und den Verzug durch das Meldewesen, kommt man auf einen Zeitversatz von 5 bis 10 Tagen zwischen Infektion und dem Auftauchen in der Statistik.

Technische Pannen kommen hinzu. „Aus technischen Gründen wurden am 25.3.2020 keine Daten aus Hamburg übermittelt“, heißt es z.B. auf der RKI-Website.

Hohe Dunkelziffer – große Unsicherheit

Und selbst wenn die Datenbasis ohne Zeitverzug wäre, hätte sie immer noch einen Schönheitsfehler. Denn laut RKI-Empfehlung sollte eine Labordiagnostik „nur bei Krankheitszeichen zur Klärung der Ursache durchgeführt werden“. Erfahrungen aus China zeigen, dass viele Menschen trotz der Infektion keine oder nur schwache Symptome haben. Wer meint, nur eine Erkältung zu haben, wird kaum zum Arzt gehen und sich testen lassen.

 
Genauso, wie man repräsentative Meinungen erheben kann, um beispielsweise Wahlprognosen aufzustellen, könnte man auch repräsentative Testungen auf COVID-19 machen. Katharina Schüller
 

Deshalb fordern das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Stellungnahmen, repräsentative Stichproben-Tests in der Bevölkerung durchzuführen. Das IfW empfiehlt dies alle 5 Tage. Solche Untersuchungen dienen nicht vorrangig der Seuchenbekämpfung, sondern sollen vor allem Auskunft über den Gesamtverlauf und die Ausbreitung geben, um zu verhindern, dass zu wenig zur Eindämmung der Pandemie unternommen wird.

Katharina Schüller, Statistikerin und Gründerin des Unternehmens „Stat-up“, unterstützt ein solches Vorhaben und bestätigt: „Genauso, wie man repräsentative Meinungen erheben kann, um beispielsweise Wahlprognosen aufzustellen, könnte man auch repräsentative Testungen auf COVID-19 machen.“ Dazu müsste man täglich z.B. 300 bis 1.000 Menschen überprüfen und deren Risikofaktoren wie das Alter, Begleiterkrankungen oder das Rauchen erfassen. „So können wir besser sehen, wer wirklich gefährdet ist – und das, schon bevor Symptome auftreten“, meint Schüller. Die Kapazitäten dafür seien vorhanden.

2 Argumente sprechen ihrer Ansicht nach dafür:

  • Im norditalienischen Vò Vecchio, einem Dorf mit 3.300 Einwohnern, wurden nach Auftreten symptomatischer Fälle alle Menschen mehrfach gescreent. Bei der 1. Runde wurden 89 symptomlose Personen positiv getestet. Das spricht für eine hohe Dunkelziffer, die z.B. derzeit in Deutschlands Statistiken so nicht berücksichtigt wird.

  • In einer Modellierung zum Verlauf der Infektionswelle arbeitet z.B. das RKI mit dem Szenario, dass ein Drittel aller Bürger bereits aufgrund symptomloser Infektionen immun gegen das neuartige Coronavirus ist.

 
Derzeit müssen gewichtige Entscheidungen, die in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel sind, im Blindflug getroffen werden. Katharina Schüller
 

Schüller jedenfalls hofft auf eine bessere Basis für die Planung. „Derzeit müssen gewichtige Entscheidungen, die in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel sind, im Blindflug getroffen werden“, so die Statistikerin. „Aber wir haben keine Ahnung, wie gut und wie schnell sie wirken. Damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben.“

Erst der neue Test, dann die Stichprobenuntersuchung

Repräsentative Stichproben seien in Planung, bestätigt auch RKI-Chef Wieler. Dazu seien aber Tests notwendig, die auch Antikörper nachweisen – und damit Hinweise auf eine durchgemachte Infektion liefern. Derzeit lägen solche Tests aber nicht vor. Denn nach Ausheilung der Infektion sind bekanntlich keine viralen Nukleinsäuren beim Patienten per PCR-Diagnostik mehr nachweisbar.

Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, rechnet damit, dass in 2 bis 3 Monaten Tests auf Antikörper kommerziell verfügbar sein könnten – in einzelnen Labors aber auch deutlich früher. Er sieht aber nicht nur Vorteile hinsichtlich besserer Daten. Ein weiterer Vorteil wäre: Fachkräfte mit Immunität könnten wieder in Krankenhäusern, Apotheken oder im Pflegebereich arbeiten: ein wichtiger Schritt gegen die zu erwartende Personalknappheit.

 

Kommentar

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