Hilfe für die schwierigste aller ärztlicher Entscheidungen: 7 Fachgesellschaften legen Empfehlungen zur Krisen-Triage vor

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

30. März 2020

Berlin – Deutschlands Notfall- und Intensivmediziner bereiten sich auf die schwerste aller Entscheidungen vor: Welcher Patient wird intensiv, welcher palliativ behandelt, wenn im Verlauf der COVID-19-Pandemie die Intensivbetten knapp werden?

 
Wir wollen am Ende dieses schwierigen, schmerzlichen Prozesses sagen können: Es war eine fundierte, gerechte Entscheidung. Prof. Dr. Uwe Janssens
 

Nach aktuellem Stand der Erkenntnisse sei es „wahrscheinlich, dass auch in Deutschland in kurzer Zeit und trotz bereits erfolgter Kapazitätserhöhungen nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen“, heißt es in den klinisch-ethischen Empfehlungen, die 7 Fachgesellschaften jetzt gemeinsam verabschiedet haben [1].

„Sollten wir in die schwierige Situation kommen, zwischen Patienten entscheiden zu müssen, dann wollen wir gewappnet sein. Wir wollen am Ende dieses schwierigen, schmerzlichen Prozesses sagen können: Es war eine fundierte, gerechte Entscheidung“, erklärt Prof. Dr. Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler.

Auf einer Pressekonferenz in Berlin stellten Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), und Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Sprecher der DIVI-Sektion „Lunge – Respiratorisches Versagen“, die neuen Empfehlungen vor.Das Dokument, das sich am Prinzip der Triage aus der Katastrophenmedizin orientiert, enthält medizinische und ethische Empfehlungen, die Ärzten und Pflegepersonal dabei helfen sollen, zwischen den Patienten in Lebensgefahr zu priorisieren.

Kriterium ist die klinische Erfolgsaussicht – nicht das Alter!

Als Kriterium gilt dabei die klinische Erfolgsaussicht, also die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die Intensivbehandlung überleben wird. „Die Priorisierungen erfolgen ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern aufgrund der Verpflichtung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen“, heißt es in den Empfehlungen.

Die Autoren des Papers haben sich dabei eindeutig gegen das Kriterium „Alter“ als hauptsächliches Kriterium entschieden. Dagegen spielen der Schweregrad der aktuellen Erkrankung sowie relevante Begleiterkrankungen (z.B. schwere vorbestehende Organdysfunktion mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung) eine wesentliche Rolle. Der Patientenwille (aktueller, vorausverfügter, zuvor mündlich geäußerter oder mutmaßlicher Patientenwille) ist ohnehin fester und mandatorischer Bestandteil bei allen Entscheidungen.

Die Priorisierungen erfolgen ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten ... Empfehlungen zur Krisen-Triage
 

Auswahl nicht nur unter COVID-19-Patienten

Es gilt der Gleichheitsgrundsatz: Deshalb sieht das Papier vor, dass eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen sollte, die eine Intensivbehandlung benötigen, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Notaufnahme, Allgemeinstation, Intensivstation) und ganz gleich, ob COVID-19-Infizierter, Schlaganfall-Patient oder Unfallopfer.

Um fair und medizinisch gut begründet zu priorisieren, sollen die Entscheidungen möglichst nach dem Mehraugen-Prinzip getroffen werden: durch 2 intensivmedizinisch erfahrene Ärzte, einen Vertreter der Pflegenden und ggf. weitere Fachvertreter.

 
Aus ethischer Sicht sind solche Priorisierungen immer ein Dilemma und damit für das Personal sehr belastend. Prof. Dr. Georg Marckmann
 

10 Tage hat die Gruppe von 14 Autoren, darunter Fachvertreter aus Notfall- und Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen, an dem Papier geschrieben. „Aus ethischer Sicht sind solche Priorisierungen immer ein Dilemma und damit für das Personal sehr belastend“, sagt Prof. Dr. Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin, der die Empfehlungen federführend mit Dr. Gerald Neitzke, Medizinische Hochschule Hannover, und Prof. Dr. Jan Schildmann, Universitätsklinikum Halle, erarbeitet hat.

Die Empfehlung ist auf der Homepage der DIVI abrufbar. Die Autoren bitten ihre Kollegen explizit um Kommentare und eine lebhafte Diskussion, um in einem offenen Diskurs die Inhalte des Papiers weiterzuentwickeln.

Ärzte in Italien und Spanien schwer traumatisiert

„Eine solche Empfehlung sorgt dafür, dass Entscheidungen nachvollziehbar, transparent und ethisch vertretbar getroffen werden“, kommentiert der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Nils Hoppe, Direktor des Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS) an der Universität Hannover das Papier.

Mit der Empfehlung, so Janssens, wolle man auch Vertrauen schaffen in der Bevölkerung: „Damit alle wissen: Selbst in dieser schwierigsten aller Situation wird nicht einfach nach dem Bauchgefühl entschieden“, so Janssens. Man habe jetzt einen roten Faden für Situationen, die in Deutschland rechtlich durchaus unterschiedlich bewertet werden.

 
Die deutschen Empfehlungen sind nicht nur gut, sondern überfällig. Prof. Dr. Ulrich H.J. Körtner
 

„Die deutschen Empfehlungen sind nicht nur gut, sondern überfällig“, kommentiert Prof. Dr. Ulrich H.J. Körtner, Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien, die Empfehlungen. „Ohne entsprechende Vorbereitung für den Ernstfall sind auch in Deutschland oder Österreich Zustände wie in Italien oder Spanien nicht auszuschließen. Ganz wichtig: Intensivbetten dürfen nicht ausschließlich für COVID-19-Betten bereitgehalten werden. Auch jetzt gibt es weitere Patienten, die aus anderen Gründen intensivpflichtig sind (schwerere Unfall, Herzinfarkt, Schlaganfall, schwere OP).“ 

Janssens betonte, dass es erschütternd gewesen sei zu sehen, unter welchem Druck Kollegen in anderen Ländern bereits Entscheidungen dieses Ausmaßes hätten fällen müssen, ohne irgendeine Orientierung zu haben, so Janssens, der auch Sprecher der DIVI-Sektion Ethik ist. „Die Kollegen in Italien und Spanien sind jetzt schon schwer traumatisiert. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Daher ein solcher Kriterienkatalog auf jeden Fall eine Stütze sein!“

Intensivregister zeigt tagesaktuell Klinik-Kapazitäten an

Ein wichtiger Teil der Vorbereitung auf die COVID-19-Pandemie ist das DIVI-Intensivregister, das Karagiannidis wesentlich mit vorangetrieben hat. Im DIVI-Intensivregister sollen die 1.100 bis 1.200 Intensivabteilungen in den deutschen Kliniken ihre freien Kapazitäten eintragen und so eine bessere und tagesaktuelle Koordination ermöglichen. Ein einfaches Ampelsystem signalisiert mit Rot, Gelb oder Grün die aktuelle Verfügbarkeit.

Im Zuge der H1N1-Pandemie 2009 entstand bereits ein deutschlandweites Netzwerk, in dem Kliniken ihre Behandlungskapazitäten für Patienten mit akutem Lungenversagen (ARDS) tagesaktuell anzeigen konnten. Bislang waren 85 Kliniken in diesem ARDS-Netzwerk miteinander verbunden. „Dieses Netzwerk war in der Vergangenheit sehr hilfreich. Durch die Entwicklung bei COVID-19 war uns schnell klar: Wir brauchen das auch für die Intensivkapazitäten bei COVID-19-Patienten“, erkärt Karagiannidis, Leiter des ARDS-und ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim, im Gespräch mit Medscape.

Aufgrund des föderalistischen Systems gibt es in Deutschland kein zentral gesteuertes Gesamtregister zu den Intensivkapazitäten. „Kommt es aber zu einer großen Zahl an schweren Fällen von COVID-19, ist eine solche zentrale Erfassung für die Patientenversorgung extrem wichtig. Damit kann z.B. ein Assistenzarzt morgens um 3 Uhr in einer kleinen Klinik sehr schnell sehen, wo es noch freie Intensivkapazitäten gibt“, sagt Karagiannidis.

Register sollte verpflichtend werden

Sich im Register anzumelden dauert nur wenige Minuten, die Beteiligung sei „extrem gut“. Seit dem 19. März freigeschaltet, haben sich schon 680 Kliniken angemeldet. Zu den ersten hätten diejenigen Kliniken gehört, die auch das Gros der Versorgung leisten.

Auch wenn das freiwillige Register gut angenommen wird – aus Sicht von Karagiannidis ist es dennoch „mehr als wünschenswert“, das freiwillige Register durch einen Erlass des Bundesgesundheitsministers zu einem verpflichtenden Register zu machen.

„Das hätte den Charme, dass man auch ein Steuerungstool in die Hand bekommen würde. Das Nadelöhr bei dieser Pandemie sind die Intensivkapazitäten und die Möglichkeiten der maschinellen Beatmung. Ob es rechtlich möglich ist, ein solches Register verpflichtend zu machen, sollte deshalb geprüft werden.“

Einmal verpflichtend könnte das Tool verlässliche, tagesaktuelle Daten liefern. „Es könnte auch eine Entscheidungsgrundlage dafür sein, drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens wieder etwas zu lockern, beispielsweise wenn man anhand der Registerdaten sieht, dass es noch viele freie Intensivkapazitäten gibt und gleichzeitig die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus keine hohe Dynamik hat“, gibt Karagiannidis zu bedenken.
 

Kommentar

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