Reaktionen auf schwere Belastungen (stress-related disorders; ICD-10: F43) sind mit einem erhöhten Risiko für neurodegenerative Erkrankungen im späteren Leben verbunden, so die Ergebnisse einer großen Beobachtungsstudie, die in JAMA Neurology publiziert wurde [1].
Dieser Zusammenhang war bei neurodegenerativen Erkrankungen mit einer primären Gefäßkomponente stärker als bei einer primären neurodegenerativen Erkrankung (80% bzw. 30% höheres Risiko).
„Dies könnte auf eine wichtige Mittlerrolle der vaskulären Faktoren hinweisen“, sagt Dr. Huan Song, Wissenschaftler der Studie von der Sichuan-Universität im chinesischen Chengdu, gegenüber Medscape. Er setzt auf ein engmaschiges Monitoring und die Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren, um das Auftreten neurodegenerativer Erkrankungen bei Patienten mit Reaktionen auf schwere Belastungen zu verringern.
Landesweite Kohortenstudie
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird mit einem erhöhten Demenzrisiko in Verbindung gebracht, aber über weitere mögliche Zusammenhänge zwischen Reaktionen auf schwere Belastungen und neurodegenerative Erkrankungen ist bislang wenig bekannt.
In einer landesweiten Kohortenstudie untersuchten die Forscher den Zusammenhang zwischen einer Reihe von Reaktionen auf schwere Belastungen, einschließlich PTBS, akuter Belastungsreaktion, Anpassungsstörung und dem anschließenden Risiko für Demenz, Parkinson-Krankheit und amyotropher Lateralsklerose (ALS).
Insgesamt nahmen 61.748 Personen mit Reaktionen auf schwere Belastungen und 595.335 gematchte Personen ohne derartige Störungen aus der Allgemeinbevölkerung teil. Bei der zusätzlichen Analyse von Geschwisterkohorten standen 44.839 Erkrankte 78.482 nicht erkrankten Vollgeschwistern gegenüber.
Das Follow-up begann ab einem Alter von 40 Jahren (Altersdurchschnitt 47 Jahre) oder 5 Jahre nach der Diagnose einer Reaktion auf schwere Belastungen – je nachdem, was später eintrat – bis zur Erstdiagnose einer neurodegenerativen Erkrankung, dem Tod, der Emigration oder dem Ende des Follow-up.
Rund 60 Prozent höheres Risiko für neurodegenerative Erkrankungen
Während des durchschnittlichen Nachbeobachtungszeitraumes von 4,7 Jahren zeigte sich bei Personen mit einer Reaktion auf schwere Belastungen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen im Vergleich zu nicht exponierten Personen (Hazard Ratio, HR: 1,57; 95%-Konfidenzintervall: 1,43–1,73).
Der Risikozuwachs war für neurodegenerative Erkrankungen mit einer primären vaskulären Komponente signifikant stärker als für primäre neurodegenerative Erkrankungen (HR: 1,80; 95%-KI: 1,40–2,31 bzw. HR: 1,31; 95%-KI: 1,15–1,48).
Ein statistisch signifikanter Zusammenhang wurde für die Alzheimer-Krankheit (HR: 1,36; 95%-KI: 1,12–1,67), nicht aber für die Parkinson-Krankheit (HR: 1,20; 95%-KI: 0,98–1,47) oder ALS ermittelt (HR: 1,20; 95%-KI: 0,74–1,96).
Die Ergebnisse aus der Geschwisterkohorte bestätigten die Ergebnisse der gematchten Kohorte aus der Allgemeinbevölkerung, die darauf hindeuten, dass die Assoziation zwischen einer Reaktion auf schwere Belastungen und neurodegenerative Erkrankungen sich nicht durch familiäre Faktoren erklären lässt, die bei den Geschwistern gehäuft auftreten würden, stellten die Untersucher weiter fest.
Modifizierbarer Risikofaktor?
Dr. Brittany LeMonda, leitende Neuropsychologin am Lenox Hill Hospital in New York City und nicht an der Studie beteiligt, erwähnte in einer Stellungnahme gegenüber Medscape, dass Stress bekanntermaßen schlecht für das Gehirn sei, wenngleich die Studien auf diesem Gebiet recht spärlich gesät seien.
„Diese Studie bringt ein neues Thema ins Spiel, an das wir vielleicht schon mal gedacht haben, jedoch ohne, dass uns dazu wissenschaftliche Daten vorgelegen hätten, die eine solche Vermutung gestützt hätten“, sagt sie und merkt an, dass sich die meisten Studien mit PTBS-Patienten befassten, und hier vor allem mit Kriegsveteranen.
„Jetzt werden hingegen Zivilpersonen mit einer Reihe von Reaktion auf schwere Belastungen und einer Reihe häufiger neurodegenerativer Erkrankungen betrachtet. Es handelt sich dabei um eine sehr breit angelegte, populationsbasierte Studie, wodurch ein Stück weit eine Verallgemeinerung der Ergebnisse möglich ist.“
Es sei auch nicht überraschend, dass der stärkste Zusammenhang zwischen Reaktionen auf schwere Belastungen und neurodegenerativen Erkrankungen bei den vaskulären Komponenten zu finden sei.
„Dies unterstreicht die Bedeutung der zerebrovaskulären Gesundheit. Lebensstressoren und der Umgang mit ihnen beeinflussen noch Jahre später unser Gehirn, und zwar nicht nur in Bezug auf die physiologische Reaktion – d.h. die Initiierung einer Ereigniskaskade, die zu einer chronischen Neuroinflammation führt –, sondern auch über unser Verhalten, unseren Lebensstil und unsere Bewältigungsstrategien angesichts starker Stressoren.“
„Wir können schlechte Entscheidungen treffen, wie zu rauchen, uns zu fettreich zu ernähren und unseren Schlaf zu vernachlässigen. Solche Verhaltensweisen haben echte Folgen für den Zustand unseres Gehirns und unserer Gefäße“, sagt LeMonda weiter.
Die Erkenntnis, dass Lebensstressoren und die Reaktionen auf schwere Belastungen die Entwicklung neurodegenerativer Störungen bahnen, ist sehr bedeutsam und eröffnet Möglichkeiten für präventive Ansätze. „Nach diesen Zahlen könnten wir in der Lage sein, Personen zu identifizieren, die aufgrund ihrer Reaktionen auf schwere Belastungen im zurückliegenden Leben ein erhöhtes Demenzrisiko haben“, erklärt LeMonda.
„Wenn wir solche Menschen deutlich früher identifizieren könnten, ließen sich passende Interventionen anbieten, durch welche die Reaktionen des Gehirns und des übrigen Körpers auf Stress sowohl auf der physiologischen als auch auf der Verhaltensebene beeinflusst werden könnten.“
Aus der Studie ließe sich auch die Notwendigkeit einer Früherkennung von Reaktionen auf schwere Belastungen ableiten, um die Chance auf eine rechtzeitige Intervention zu wahren. „Auch im Interesse der öffentlichen Gesundheit wäre es wichtig, die Allgemeinbevölkerung auf diese Ergebnisse aufmerksam zu machen, damit sich Betroffene bei chronischem Stress oder Traumatisierungen um geeignete Hilfen und Therapien bemühen können“, schloss sie.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Erst traumatisiert – später dement? Schwere psychische Belastungen könnten neurodegenerative Erkrankungen fördern - Medscape - 24. Mär 2020.
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