Das Coronavirus SARS-CoV-2 hat Deutschland mit aller Macht erreicht – und zwar in allen Lebensbereichen. Führende Ökonomen fordern ein schnelles Handeln für die in Not geratene Wirtschaft und wollen auch am Ziel der schwarzen Null nicht mehr festhalten. In besonderer Weise betroffen ist die Gesundheitswirtschaft. Wie sieht der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Wolfgang Greiner die Situation? Er lehrt Gesundheitsökonomie an der Universität Bielefeld und ist u.a. Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
Medscape: Inwiefern ist die Gesundheitswirtschaft in besonderer Weise von Corona betroffen?
Prof. Greiner: Es liegt auf der Hand, dass die Erwartungen an die Gesundheitswirtschaft in diesen Tagen immens sind. Wie alle anderen Sektoren der Wirtschaft werden auch Unternehmen aus dem Gesundheitssektor von Arbeitsunfähigkeits-Häufungen (auch wegen Quarantäne), fehlendem Nachschub an Material für die Behandlung oder Produktion und Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Krise betroffen sein.

Prof. Dr. Wolfgang Greiner
Gleichzeitig kommt im Gesundheitsbereich aber hinzu, dass die außerordentliche Nachfrage kaum befriedigt werden kann, wenn die Patientinnen und Patienten ein hohes Informationsbedürfnis haben und irgendwann auch die Kapazitäten für Behandlungsplätze knapp werden könnten. Es kommt dann natürlich sehr darauf an, wie lange und wie heftig die Krise anhält. Einige Wochen kann ein so gut ausgebautes System wie das deutsche eine solche Belastung aushalten, für längere Zeit erschöpft sich aber die Anpassungsfähigkeit.
Das medizinische und pflegerische Personal kann nicht über Monate 150 Prozent geben, und auch die Beschaffung von für die Behandlung notwendigem Material wie Schutzbekleidung und Arzneimittel würde dann zum immer größeren Problem werden.
Medscape: Europa kann die medizinische Versorgung seiner Bevölkerung schon lange nicht mehr aus eigener Kraft stemmen. Corona führt das deutlich vor Augen. Sollten für Gesundheitsmärkte andere ökonomische Regeln gelten?
Prof. Greiner: Die Länder der europäischen Union sind sehr unterschiedlich auf eine solche Krise vorbereitet. Ihnen gemeinsam ist, dass bestimmte Vorprodukte und insbesondere auch wichtige Generika nicht mehr in Europa hergestellt werden. Das ist in einer arbeitsteiligen Welt auch in Ordnung so und führt zu höherem Lebensstandard bei uns (da wir die Produkte billiger beziehen können, als wenn wir das selbst herstellen würden) – aber auch in den Herstellungsländern, denen sonst wichtige Absatzmärkte für relativ hochwertige Produkte fehlen würden.
Man muss in einer solchen Situation aber ausreichende Puffer für Störungen in der Produktions- und Lieferkette haben. Und daran hapert es nicht erst seit der aktuellen Corona-Krise. Wichtig wäre, eine nationale Reserve lebenswichtiger Arzneimittel für wenigstens 3 Monate vorzuhalten. Am effizientesten wäre eine dynamische Bevorratung, also keine separate Lagerhaltung für die Notfallreserve.
Medscape: In diesen Tagen wird in den Medien daran erinnert, dass Deutschland mal die Apotheke der Welt war. Eigentlich hatten das immer nur die Pharmaunternehmen ins Feld geführt. Woran liegt es, dass die Produktion von Arzneimitteln ins außereuropäische Ausland abgewandert ist?
Prof. Greiner: Das ist keine Entwicklung, die wir nur in der Pharmabranche sehen. Auch andere, relativ einfach zu produzierende Waren werden nicht mehr in Deutschland produziert, wo dies mit unserem Lohnniveau nicht mehr wirtschaftlich möglich wäre (zum Beispiel im Elektronikbereich).
Die Entwicklung nutzt der deutschen Gesellschaft gerade in einer Situation der Vollbeschäftigung wie in den letzten Jahren. Denn so kann sich die deutsche Produktion auf komplexere Produktions- und Dienstleistungsprozesse konzentrieren und bezieht andere, einfachere Produkte aus dem Ausland. Handel ist auf Dauer nie eine Einbahnstraße.
Wenn wir als Exportnation weiter unseren Wohlstand halten wollen, ist es unerlässlich, dass wir Waren, die anderswo in gleicher Qualität günstiger produziert werden können, von außen beziehen. Das gebietet die wirtschaftliche Vernunft, aber auch die Fairness unseren Handelspartnern gegenüber.
Medscape: Lässt sich das Rad zurückdrehen? EU-Standortortpolitik wird zumindest angedacht.
Prof. Greiner: Nein, und das wäre auch nicht wünschenswert. Wir brauchen zur Vermeidung der aktuell feststellbaren Engpässe keine speziellen zusätzlichen Produktionsanlagen in Europa, sondern im Ausland mehr als eine Handvoll Lieferanten (um Abhängigkeiten zu vermeiden) und im Inland die schon angesprochene Reserve, um Lieferschwankungen auszugleichen.
Und wir benötigen nachprüfbare Produktions- und Umweltstandards für die Waren, die wir aus anderen Ländern beziehen, denn natürlich will niemand Arzneimittel einnehmen, die anderswo zu Umweltschäden und Ausbeutung der Arbeitskräfte geführt haben. Das könnte man aber gerade im Pharmabereich durch die überschaubare Anzahl der Produktionsstandorte mit vertretbarem Aufwand und entsprechenden Vorgaben sicherstellen.
Medscape: Was macht die Krise mit der Gesundheitswirtschaft insgesamt?
Prof. Greiner: In der Krise ist es immer anders als in normalen Zeiten, das macht die Krise aus. Man kann also nicht erwarten, dass bei einem Szenario wie derzeit einfach alles so weiter geht wie bisher. Eine solche Erwartungshaltung wäre völlig unrealistisch.
Deshalb kann man, wenn die Krise vorbei ist, darüber nachsinnen, ob wir mehr und bessere Krisenpläne benötigen, ob sich in einer solchen Lage der Föderalismus eher bewährt hat oder hinderlich war und nach welche Kriterien entschieden werden soll, wie die lebensnotwendigen, aber dann äußerst knappen Ressourcen (wie Beatmungsplätze) verwendet werden sollen. Man wird aus den Erfahrungen lernen und Prozesse, die nicht geklappt haben, anpassen.
Aber das ändert nichts an dem Grundsatz, dass auch die nächste Krise, wann immer sie kommen wird, wieder alles durcheinanderbringt, obwohl man dachte, gut vorbereitet zu sein. Ich vermute also, dass die deutsche Gesundheitswirtschaft ihre Stärke in der Krise zeigen kann und nach deren Abschluss im Rückblick neue Erkenntnisse gewonnen werden, gerade was die Themen Bevorratung und Notfallkapazitäten angeht.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de .
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Diesen Artikel so zitieren: Gesundheitswirtschaft in Zeiten von Corona: Dynamische Bevorratung von lebenswichtigen Arzneimitteln gefordert - Medscape - 17. Mär 2020.
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