Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat die „geschäftsmäßige“ Hilfe zum Suizid für rechtens erklärt. Damit ist das „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“, das in Deutschland seit 2015 gilt, verfassungswidrig [1]. Geklagt hatten Sterbehilfe-Vereine, Ärzte und Patienten.
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, urteilt nun das BVG. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“
Änderungen am Strafgesetzbuch erforderlich
Mit dieser Entscheidung sei der Paragraf 217 des Strafgesetzbuchs (StGB) „nichtig“. Der Gesetzgeber hatte darin im Jahr 2015 „die geschäftsmäßige Förderung des Suizids“ verboten. Zwar dürfe der Gesetzgeber die Suizidbeihilfe regulieren, so das BVG. Aber er müsse das Recht des Einzelnen zu einem selbstbestimmten Tod „hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung“ geben.
Damit der Einzelne seine Freiheit auch wahrnehmen könne, sei „faktisch hinreichender Raum zur Entfaltung und Umsetzung“ notwendig, urteilte das BVG. Auch das Berufsrecht von Ärzten und Apothekern müsse angepasst werden, ebenso das Betäubungsmittelrecht.
„Dies schließt nicht aus, die im Bereich des Arzneimittel- und des Betäubungsmittelrechts verankerten Elemente des Verbraucher- und des Missbrauchsschutzes aufrechtzuerhalten und in ein Schutzkonzept zur Suizidhilfe einzubinden“, heißt es im Urteil.
Palliativmediziner „geschockt“
In einer ersten Reaktion auf das Urteil sagt Prof. Dr. Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), zu Medscape: „Ich bin geschockt, dass das Gericht die Hilfe zum Suizid so hoch bewertet und zweitens davon, dass die Rolle des Arztes durch das Urteil deutlich verändert wird.“
Radbruch befürchtet einen Kulturbruch in der ärztlichen Kunst bei Sterbenden. „Wird es jetzt bald eine entsprechende EBM-Ziffer für Hausärzte geben? Kommt jetzt das Studienfach Sterbehilfe?“, fragt sich der DGP-Präsident.
Dass nun in Deutschland mehr Menschen durch Suizid sterben werden, legen Zahlen aus Holland nahe. Dort sei Beihilfe zum Suizid und Töten auf Verlangen gesetzlich erlaubt, berichtet Radbruch. „Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Suizide in den Niederlanden erstmals nicht gestiegen, zuvor stieg sie um rund 500 im Jahr auf derzeit rund 6.200 im Jahr. Das sind rund 4 Prozent aller Todesfälle.“
Radbruch befürchtet, dass Sterbende in Deutschland nicht mehr immer über alle Alternativen aufgeklärt würden, dass nicht immer genau genug geprüft werde, ob vielleicht eher eine Depression hinter dem Todeswunsch stehe. „Ich bin jedenfalls Arzt geworden, um Menschen zu unterstützen und zu begleiten“, betont der Experte.
Niederlage für die Menschlichkeit
Auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand kritisiert die Entscheidung des BVG. Er sprach von einer „Niederlage der Menschlichkeit“. Brand hatte den § 217 StGB mitinitiiert. „Dieses Urteil wird für viele Menschen, die mit Blick auf Selbsttötung unter großem Druck stehen, eine sehr gefährliche, teils tödliche Wirkung haben“, kommentiert Brand in einem ersten Statement, das Medscape vorliegt.
Brand: „Es ist empirisch nachgewiesen, dass geschäftsmäßige Angebote zu mehr Suiziden führen, über die sehr kleine Zahl derer hinaus, die dies in voller Selbstbestimmung tun. Diese Nebenwirkung auf die vielen Menschen unter Druck bei dem Urteil billigend in Kauf zu nehmen, bedeutet eine neue und sehr beunruhigende Qualität. Ich halte das für falsch und gefährlich.“
Zustimmung zum Urteil kommt von Prof. Dr. Christoph Knauer, der für 2 Mandanten die Klage vor dem BVG geführt hat. „Es geht um die Würde und Freiheit dieser Menschen“, sagte Knauer zu Medscape. „Das BVG hat entschieden, dass man Suizidhelfer nicht pauschal kriminalisieren darf!“
Chance auf menschenwürdiges Sterben
Niedersachsens Gesundheitsministerin Dr. Carola Reimann (SPD) erklärte, sie sei erleichtert, „dass eine Entscheidung getroffen wurde, die den Wünschen und der Situation der todkranken Menschen Rechnung trägt“. Sie sei fest überzeugt, dass es nicht Aufgabe des Staates ist, Menschen in der Sterbephase Vorschriften zu machen. „Wie ein würdiges Sterben aussieht, wie viel Schmerz, Angst und Kontrollverlust man ertragen will, muss und soll jeder von uns selbst entscheiden“, so Reimann.
„Wir brauchen Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte, die bereit sind, Patientinnen und Patienten in dieser verzweifelten Situation zu helfen“, ergänzt die Sozialdemokratin. „Es darf nicht sein, dass sie strafrechtliche Ermittlungen befürchten müssen. Der Bund muss jetzt zügig die Konsequenzen aus diesem Urteil ziehen.“
Das betonen auch Verfassungsrichter: Der Gesetzgeber dürfe Suizidbeihilfe regeln – aber er müsse das Recht auf freie Selbstbestimmung des Menschen wahren. Denkbar seien zum Beispiel Aufklärungs- und Wartepflichten, um die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten zu sichern oder um besonders gefahrträchtige Formen der Suizidhilfe zu verbieten.
Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe
Die Bundesärztekammer (BÄK) urteilt, die Beihilfe zum Suizid gehöre nicht zu den Aufgaben von Ärzten. Indessen sei es ihr Auftrag, „unter Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zu ihrem Tod beizustehen“. Positiv bewertet die BÄK, dass „auch zukünftig keine Ärztin und kein Arzt zur Mitwirkung an einer Selbsttötung verpflichtet werden kann“. Nun sei der Gesetzgeber gefragt. „Die Gesellschaft als Ganzes muss Mittel und Wege finden, die verhindern, dass die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung zu einer Normalisierung des Suizids führt.“
Brand kündigte an: „Wir werden das Urteil jetzt genau daraufhin untersuchen, welche Möglichkeiten noch bestehen, Gefährdete und auch deren Selbstbestimmung tatsächlich zu schützen.“
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Diesen Artikel so zitieren: „Geschäftsmäßige“ Beihilfe zum Suizid ist rechtens: Das halten Ärzte und Politiker vom höchstrichterlichen Urteil - Medscape - 27. Feb 2020.
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