„Ethische Bauchschmerzen“ – Ärzte kritisieren Novartis für Verlosung von 100 Dosen der teuren Gentherapie Zolgensma

Antje Sieb

Interessenkonflikte

26. Februar 2020

Seit Anfang Februar wird alle 2 Wochen die Gentherapie Zolgensma gegen die autosomal-rezessiv vererbte Spinale Muskelatrophie (SMA) verlost. Der Hersteller Novartis hat 100 Dosen für ein internationales Härtefall-Programm zur Verfügung gestellt, da das Medikament bisher erst in den USA zugelassen ist. Eine europäische Zulassung erwarte man im ersten Halbjahr 2020, heißt es bei Novartis.

 
Die begrenzt zur Verfügung stehende Substanz darf ausschließlich nach Bewertung durch ein Expertengremium vergeben werden … Prof. Dr. Ulrich Janssens
 

Kritiker werfen dem Konzern vor, die Verlosung sei intransparent und fordern stattdessen eine Vergabe nach medizinisch nachvollziehbaren Kriterien. „Die begrenzt zur Verfügung stehende Substanz darf ausschließlich nach Bewertung durch ein Expertengremium vergeben werden, das den Prozess unabhängig von der Firma Novartis transparent überprüft und überwacht“, so Prof. Dr. Ulrich Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin [1].

Verlosung kontra Experten-Auswahl

Ähnliches forderte Anfang Februar bereits die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke zusammen mit der Gesellschaft für Neuropädiatrie und anderen Unterzeichnern in einem Brief an Novartis.

Die Firma solle das Medikament für diejenigen Betroffenen kostenlos abgeben, bei denen die in Europa bereits zugelassene Therapie mit dem Wirkstoff Nusinersen (Spinraza®) nicht infrage komme, fordern die Unterzeichner. Das sei nur eine kleine Zahl an Patienten.

„Sollte die zur Verfügung stehende Menge an Medikation hierfür nicht ausreichen, was für uns schwer vorstellbar ist, würden wir sie auffordern, uns mittzuteilen, wie viele Dosen sie zur Verfügung stellen können.“ Die Auswahl der Betroffenen würde dann eine Kommission übernehmen, heißt es in dem Brief.

Diesbezüglich gebe es Gespräche, sagt man bei Novartis auf Anfrage von Medscape. Evaluiert werde, „wie wir das globale Managed-Access-Programm möglicherweise noch verbessern können, um den Bedürfnissen der SMA-Gemeinschaft besser gerecht zu werden und gleichzeitig die Programmprinzipien der Fairness, der klinischen Notwendigkeit und der globalen Zugänglichkeit aufrechtzuerhalten.“

Denn Fairness bei der Verteilung gibt Novartis als Hauptgrund dafür an, dass die 100 Dosen unter allen infrage kommenden Anträgen verlost werden. „Mit dem globalen Programm haben wir ein Verfahren entwickelt, um weltweit Patienten fair und gleichberechtigt zu behandeln.“

Der Münchner Medizinethiker Prof. Dr. Georg Marckmann ist allerdings nicht wirklich überzeugt. In der Medizin hält er das Lotterieprinzip grundsätzlich für schwierig, weil es dort um Überlebenschancen gehe: „Die Chancen auf Gesundheit sind ohnehin durch genetische Ausstattung und soziale Faktoren ungleich verteilt. Die Gesundheitsversorgung sollte solche Unterschiede eher kompensieren, als sie durch eine weitere Lotterie zu verschärfen.“

Zudem seien wichtige Rahmenbedingungen, wie die Knappheit des Medikamentes, nicht ohne weiteres zu überprüfen. Transparenz sei aber eine wichtige Voraussetzung für ethische Beurteilungen. „Grundsätzlich ist es so, dass eine Lotterie eigentlich ein faires Zuteilungsverfahren ist. Die Frage ist, ob das unter den gegebenen Bedingungen fair ist, und da habe ich, wie viele meiner Kollegen erhebliche ethische Bauchschmerzen.“

Härtefallprogramm mit Losverfahren

Um eine Chance auf eine kostenlose Dosis des Medikamentes zu haben, müssen bestimmte medizinische Voraussetzungen erfüllt sein und der behandelnde Facharzt muss bei der Firma einen Antrag stellen. Das Paul-Ehrlich-Institut hat das Verfahren im Rahmen eines Härtefallprogrammes genehmigt.

Für eine Behandlung kommen daher nur Patienten infrage, die unter 2 Jahre alt sind, unter einer schweren Form der SMA leiden und die mit dem bereits zur Verfügung stehenden Wirkstoff Nusinersen nicht behandelt werden können, oder bei denen er keine Wirkung zeigt.

Bei der DIVI gibt es aber offenbar Zweifel daran, dass Novartis nur 100 Dosen für das globale Managed-Access-Programm zur Verfügung hat. Die Verknappung sei offenbar gewollt und folge einem ökonomischen Kalkül, heißt es in einer Pressemeldung.

Novartis hingegen nennt produktionstechnische Gründe. Denn momentan gebe es nur ein Werk, das den Wirkstoff herstellt. „Wir sind bestrebt, die Produktionskapazitäten schnellstmöglich auszubauen. 2 weitere Anlagen in den Vereinigten Staaten werden voraussichtlich im Jahr 2020 aufgebaut und in Testphasen gehen und können 2021 in Betrieb genommen werden.“

Soll Verlosung Druck auf Behörden ausüben?

Die Verlosung solle öffentlichen Druck auf die Zulassungsbehörden in Europa ausüben, um die Preisvorstellungen des Pharmakonzerns durchzusetzen, befürchten die Vertreter der DIVI. Denn das Medikament kostet in den USA umgerechnet knapp 2 Millionen Euro. Allerdings soll eine einzige Dosis genügen, um deutliche Verbesserungen im Krankheitsverlauf zu erreichen.

Und auch das in Europa schon seit 2017 zugelassene Medikament Spinraza® ist alles andere als günstig. Der GBA kalkuliert in der Nutzenbewertung mit Therapiekosten von über 300.000 Euro pro Jahr für das Mittel, das alle 4 Monate neu verabreicht werden muss.

Funktionsloses Gen

Bei Kindern, die unter infantiler SMA leiden, tritt oft schon früh schwerer Muskelschwund auf, weil die Motorneuronen im Rückenmark absterben. Sie lernen dann weder sitzen noch krabbeln und sterben unbehandelt meist vor dem Alter von 2 Jahren.

Die Krankheit beruht auf einer Mutation, die die Funktion des SMN1-Gens beeinträchtigt. Es kodiert für das für die Motorneuronen unverzichtbare Survival of Motor Neuron(SMN)-Protein. Das SMN2-Gen kann als eine Art Back-Up einspringen, ist aber nicht so effektiv. Das führt dazu, dass deutlich weniger funktionsfähiges SMN-Protein entsteht und die Motorneuronen untergehen.

Deshalb hängt die Schwere der Erkrankung auch davon ab, wie viele Kopien des SMN2-Gens ein Patient hat – je mehr, desto mehr SMN-Protein steht zur Verfügung und desto später treten Symptome auf. Während die Krankheit in erster Linie die Motorneuronen betrifft, können auch Auswirkungen auf andere Organsysteme vorkommen, da das Protein offenbar auch dort benötigt wird.

Geschätzt kommen in Deutschland jährlich rund 80 Babies mit SMA zur Welt. Die bundesweite Einführung eines Neugeborenenscreenings wird diskutiert.

Die seit 2017 zugelassene Therapie mit Nusinersen (Spinraza®), einem synthetischen Antisense-Oligonukleotid, boostert sozusagen die Proteinproduktion des SMN2-Gens. Dann kann mehr funktionsfähiges Protein hergestellt werden. Bei vielen Patienten lässt sich die Krankheit so aufhalten oder zumindest hinauszögern. Der GBA bescheinigt der Therapie für schwer betroffene Patienten einen erheblichen Zusatznutzen.

Allerdings muss das Medikament alle 4 Monate in die Wirbelsäule injiziert werden. Und bei manchen Patienten zeigt die Therapie offenbar keine Wirkung.

Gentherapie mit Zolgensma®

Bei dem in Europa bisher nicht zugelassenen Zolgensma dagegen handelt es sich um ein Gentherapie-Medikament. Mithilfe eines Adenovirus-assoziierten Vektors (AAV9) werden korrekte Kopien des SMN1-Gens in den Körper geschleust. Dazu reicht eine einzige Infusion. Auch Zolgensma hat in den Zulassungsstudien dafür gesorgt, dass behandelte Kinder sich besser entwickelten als bei der Krankheit zu erwarten war, zum Teil erreichten sie sogar sogenannte Meilensteine und konnten allein sitzen.

Wie lange die Wirkung anhält, ist allerdings bisher unklar. Bei Patienten, die Antikörper gegen den Vektor haben, könnte die Wirkung beeinträchtigt sein. Nach einer Behandlung werden in der Regel Antikörper gebildet – deshalb ist es auch unwahrscheinlich, dass sich die Gentherapie im Zweifel wiederholen ließe.

Es gibt bisher auch keine Vergleichsstudien, die zeigen könnten, ob oder bei wem Spinraza® oder Zolgensma® besser wirksam ist. Bei beiden Medikamenten gehen Experten aber davon aus, dass die besten Erfolge erreicht werden, wenn die Krankheit noch nicht weit fortgeschritten ist.

Kritik am Verlosungsprinzip

Dr. Kathrin Knochel, Ärztin für klinische Ethik, Intensiv- und Palliativmedizin aus München macht sich Sorgen, dass die Verlosung des noch nicht zugelassenen Medikamentes in der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck erweckt: „Mit der Verlosung wird suggeriert, dass das Medikament allen Patienten helfen wird.“ Gerade in der Gentherapie mussten Ärzte, Patienten und Forscher allerdings bisher immer wieder schmerzliche Rückschläge hinnehmen.

 
Mit der Verlosung wird suggeriert, dass das Medikament allen Patienten helfen wird. Dr. Kathrin Knochel
 

Dr. Axel Hübler, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Chemnitz, sieht sogar die Sicherheit der Patienten gefährdet: „Das intransparente Verfahren von Novartis beschädigt die medizinische Sorgfaltspflicht.“ Das Gesundheitsministerium habe mit der Zolgensma-Verlosung einen Verstoß gegen geübte Regeln zur Zulassung und Anwendung einer neuen medikamentösen Therapie gebilligt.

Dem widerspricht man am zuständigen Paul-Ehrlich-Institut (PEI) allerdings energisch. Es habe aus regulatorischer Sicht keinen Grund gegeben, das Programm abzulehnen, betont eine Sprecherin, und es gebe klare medizinische Kriterien, wer für eine Anwendung des Medikamentes schon vor der Zulassung in Frage komme. Die zur Verfügung stehenden Dosen zu verteilen, sei Sache der Firma.

 
Das intransparente Verfahren von Novartis beschädigt die medizinische Sorgfaltspflicht. Dr. Axel Hübler
 

Beim PEI sieht man eher die gelegentlichen Einzelimporte des Medikaments kritisch, die Krankenkassen auf Antrag genehmigen können. Das Härtefall-Programm sei im Vergleich besser kontrolliert.

Weil gerade Orphan Drugs für seltene Erkrankungen wie SMA aufwendig in der Entwicklung sein können, aber nur einen begrenzten Absatzmarkt haben, sind die Preisvorstellungen der Pharmaunternehmen hoch. DIVI-Präsident Janssens befürchtet, dass die Gesundheitssysteme erpressbar werden, wenn das Beispiel von Novartis Schule macht. Es müsse sichergestellt werden, dass „das Losverfahren nicht zum Regelfall wird, um teure Medikamente auf den Markt zu bringen“. Deshalb fordert er eine ethische Debatte.

 

Kommentar

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