Streit um Misoprostol: Wie gefährlich ist sein Einsatz zur Weheninduktion? Geburtshelfer wehren sich gegen Vorwürfe

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

20. Februar 2020

Eigentlich handelt es sich um ein Magenschutzmittel, das in erster Linie zur Therapie und Prävention von Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren eingesetzt wird. Für genau diese Anwendung jedenfalls ist der Wirkstoff Misoprostol zumindest in Deutschland zugelassen. Im Off-Label-Use allerdings wird das Medikament mit dem Handelsnamen Cytotec® auch gerne in der Geburtshilfe verwendet, da es wehenfördernd wirkt und somit eine Geburt einleiten kann.

Vor dieser Verwendung von Misoprostol hat ein Mediziner aus Österreich, Prof. Dr. Peter Husslein, Professor für Geburtshilfe und Leiter der Universitäts-Frauenklinik Wien, jedoch kürzlich in der Süddeutschen Zeitung mit eindringlichen Worten gewarnt und damit viele Diskussionen ausgelöst. Cytotec® habe zahlreiche mütterliche Todesfälle verursacht, wird Husslein bereits in der Überschrift des Interviews zitiert.

Zudem löse das Medikament häufiger als andere geburtseinleitende Mittel Wehenstürme aus, die das Kind aufgrund eines möglichen Sauerstoffmangels gefährden könnten, sagte der Gynäkologe. Für ihn persönlich gebe es keinen Grund der Welt, warum er ein gefährliches, nicht registriertes Medikament anwenden solle.

Die DDDG hält die Anwendung des Wirkstoffs für sicher

Unter Gynäkologen und Geburtshelfern hierzulande hat das Interview mit Husslein jedoch für einige Aufregung gesorgt. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) veröffentlichte daher Ende der vergangenen Woche gemeinsam mit weiteren Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften eine Pressemitteilung, in der sie die Anschuldigungen des Wiener Kollegen vehement zurückweist [1].

 
Entgegen der Berichterstattung ist der Wirkstoff Misoprostol zur Geburtseinleitung bei geburtshilflichen Experten nicht umstritten. Prof. Dr. Sven Kehl und Prof. Dr. Michael Abou-Dakn
 

„Entgegen der Berichterstattung ist der Wirkstoff Misoprostol zur Geburtseinleitung bei geburtshilflichen Experten nicht umstritten, weshalb fast alle Perinatalzentren höchster Ordnung diesen Wirkstoff verwenden“, heißt es in der Stellungnahme. In der Geburtshilfe werde allerdings nicht der Magenschoner Cytotec 200® genutzt, sondern ein Misoprostol-Präparat geringerer Dosierung.

Das Schreiben wurde von Prof. Dr. Sven Kehl von der Frauenklinik des Universitätsklinikums Erlangen und von Prof. Dr. Michael Abou-Dakn von der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des katholischen St. Joseph-Krankenhauses in Berlin verfasst.

Die Behauptung Hussleins, dass sich die Ärzte bei der Gabe des Mittels lediglich auf Erfahrungswerte und Anwendungsbeobachtungen stützten, sei falsch, betonen die Mediziner. Vielmehr existiere kein Wirkstoff zur Geburtseinleitung, der ähnlich gut in Studien untersucht worden sei.

„Mittlerweile gibt es mehr als 80 randomisiert-kontrollierte Studien zur Verwendung von oralem Misoprostol zur Geburtseinleitung und dutzende randomisiert-kontrollierte Studien zur vaginalen Applikation“, schreiben Kehl und Abou-Dakn.

 
Mittlerweile gibt es mehr als 80 randomisiert-kontrollierte Studien zur Verwendung von oralem Misoprostol zur Geburtseinleitung und dutzende randomisiert-kontrollierte Studien zur vaginalen Applikation. Prof. Dr. Sven Kehl und Prof. Dr. Michael Abou-Dakn
 

Die Evidenz sei unstrittig: Der Wirkstoff Misoprostol sei das effektivste Medikament zur Geburtseinleitung und führe vor allem bei der oralen Anwendung zu weniger Kaiserschnitten als es bei Medikamenten wie Dinoproston oder Oxytocin der Fall sei.

Eine Cochrane-Analyse bestätigt die Vorteile des Wirkstoffs

Die Mediziner stützen sich dabei unter anderem auf eine Cochrane-Analyse aus dem Jahr 2014, für die 76 randomisiert-kontrollierte Studien mit insgesamt 14.412 Frauen ausgewertet worden waren.

„Oral verabreichtes Misoprostol ist ein wirksames Mittel zur Einleitung der Wehentätigkeit“, heißt es in der Zusammenfassung des Berichts. „Es ist wirksamer als ein Placebo, genauso wirksam wie vaginal verabreichtes Misoprostol und führt zu weniger Kaiserschnitten als vaginal verabreichtes Dinoproston oder Oxytocin.“

Das künstliche Prostaglandin E2, Dinoproston genannt, das in das hintere Scheidengewölbe appliziert wird, sei bei Raumtemperatur außerdem instabil und darüber hinaus teuer.

Allerdings, so räumen die Cochrane-Autoren ein, lägen noch immer nicht genügend Daten aus randomisiert-kontrollierten Studien vor, um die optimale Dosis von oral verabreichtem Misoprostol bei größtmöglicher Sicherheit zu bestimmen.

Geschätzt jede zweite deutsche Geburtsklinik verwendet das Medikament

Verlässliche Informationen zu gravierenden Nebenwirkungen von Cytotec® gibt es ebenfalls kaum. Nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) lagen der Behörde zuletzt (Stand: Oktober 2019) 74 Verdachtsmeldungen unerwünschter Arzneimittelwirkungen von oral verabreichtem Misoprostol zur Geburtseinleitung vor.

Unter anderem war ein Säugling 4 Tage nach der Geburt aufgrund einer Lungenblutung gestorben. Die Mutter hatte den Wirkstoff sowohl oral als auch vaginal über das Medikament Misodel 200® erhalten. Da für Nebenwirkungen von Misoprostol, auch tödliche, laut Arzneimittelgesetz keine Meldepflicht besteht, könnten die Zahlen allerdings höher liegen als die, die dem BfArM vorliegen.

Der deutsche Hersteller von Cytotec®, das Unternehmen Pfizer, hatte das Prostaglandin-E1-Analogon bereits im Jahr 2006 vom Markt genommen. Der „Missbrauch“ des Medikaments sei zu hoch gewesen, teilte das Unternehmen damals dem Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA mit.

Seither wird Cytotec® hierzulande aus dem Ausland importiert. In geschätzt jeder zweiten Geburtsklinik kommt das – mit nur etwa einem Euro pro Tablette – sehr preiswerte Mittel routinemäßig zum Einsatz. Rund 20% aller Klinikgeburten in Deutschland werden eingeleitet, vermutlich häufig mithilfe von Cytotec®.

Nach Operationen der Gebärmutter ist das Mittel kontraindiziert

Es sei korrekt, dass jedes Medikament potenzielle Nebenwirkungen haben könne, schreiben Kehl und Abou-Dakn in ihrer Stellungnahme. „Zu den seltenen Nebenwirkungen von Misoprostol gehören erhöhte Temperatur/Fieber, Zittern und Überstimulation.“

Bei den von Husslein genannten Todesfällen handele es sich hingegen um Einzelfälle, in denen vor allem Geburten betroffen gewesen seien, bei denen im Vorfeld eine Operation der Gebärmutter erfolgt sei – etwa ein früherer Kaiserschnitt, eine Entfernung von Myomen oder eine operative Behandlung der Endometriose. „Hier gibt es unabhängig von einer Geburtseinleitung immer das Risiko, dass es zu einer Uterusruptur mit entsprechendem erhöhtem Risiko für Mutter und Kind kommen kann“, betonen die Gynäkologen.

In solchen Situationen dürfe Misoprostol tatsächlich nicht zur Geburtseinleitung verwendet werden, was allerdings seit vielen Jahren bekannt sei. Ebenso dürften Prostaglandin-Präparate wie Misoprostol oder auch Dinoproston nicht gegeben werden, wenn bereits Wehen vorhanden seien, da dies zu Überstimulationen, den Wehenstürmen, führen könne, schreiben Kehl und Abou-Dakn.

Eine neue S2k-Leitlinie zur Geburtseinleitung wird das Mittel empfehlen

Dass Cytotec® in Deutschland nicht zur Geburtseinleitung zugelassen ist und daher nur im Off-Label-Use verwendet werden darf, betrachten die beiden Gynäkologen nicht als ein Problem. „Da Zulassungsstudien fast aller Medikamente Kinder und Schwangere ausschließen, werden in der Geburtshilfe und Kinderheilkunde überwiegend Antibiotika, Bluthochdruckmittel und Medikamente zur kindlichen Lungenreifung ‚off-label‘ angewendet“, schreiben Kehl und Abou-Dakn.

 
Da Zulassungsstudien fast aller Medikamente Kinder und Schwangere ausschließen, werden in der Geburtshilfe und Kinderheilkunde überwiegend Antibiotika, Bluthochdruckmittel und Medikamente zur kindlichen Lungenreifung ‚off-label‘ angewendet. Prof. Dr. Sven Kehl und Prof. Dr. Michael Abou-Dakn
 

Auch die in der Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung erwähnten Alternativen seien im Übrigen nur in bestimmten Situationen je nach Gebärmutterhals-Befund zugelassen.

Nicht erwähnt worden sei hingegen die Tatsache, dass der Wirkstoff Misoprostol in vielen Ländern zur Geburtseinleitung sehr wohl zugelassen sei – und somit eher eine Besonderheit in Deutschland bestehe, bemängeln Kehl und Abou-Dakn. In Frankreich beispielsweise sei das niedriger dosierte Misoprostol-Präparat Angusta® ebenso wie in allen skandinavischen Ländern als wehenförderndes Mittel zugelassen. Auch in Deutschland werde Ende des Jahres ein Zulassungsverfahren für dieses Medikament beginnen.

„Angesichts dieser ganzen Datenlage sind wir irritiert über die aktuelle einseitige Berichterstattung, die zu einer unnötigen und gefährlichen Verunsicherung der Schwangeren und der in die Betreuung der Schwangeren eingebundenen Fachkräfte führt(e)“, schreiben die Gynäkologen.

 
Angesichts dieser ganzen Datenlage sind wir irritiert über die aktuelle einseitige Berichterstattung, die zu einer unnötigen und gefährlichen Verunsicherung der Schwangeren. Prof. Dr. Sven Kehl und Prof. Dr. Michael Abou-Dakn
 

Aktuell sei eine gemeinsame S2k-Leitlinie zur Geburtseinleitung der DGGG, der SGGG (Schweizer Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) und der OEGGG (Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) in Erstellung. Auch dort, so kündigen die Mediziner an, werde man die Verwendung von Misoprostol zur Geburtseinleitung empfehlen – im Einklang mit anderen internationalen Leitlinien.
 

Kommentar

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