Aufgrund der jüngsten Änderung der Definition der Hypertonie in den US-Leitlinien hat sich die Prävalenz der isolierten diastolischen Hypertonie erhöht – jedoch scheint die Erkrankung nicht mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden zu sein. Dies legt eine neue Studie nahe, die in JAMA veröffentlicht worden ist [1].
Durch die 2017 in den USA neu geschaffene Kategorie „Stage 1 Hypertension“ (S1) (wir berichteten) wurden US-Patienten mit 130 bis 139 mmHg systolisch bzw. 80 bis 89 mmHg diastolisch quasi über Nacht behandlungsbedürftig. Bekanntlich schloss sich die European Society of Cardiology (ESC) dieser Kategorisierung nicht an und hält hier auch keine Therapien für erforderlich. Nun bekommt die US-Sicht durch eine neue Studie einen Dämpfer.
„Wir glauben, dass die niedrigere diastolische Schwelle in den neuen US-Leitlinien die Grenzen zu weit fasst“, kommentiert auch der Hauptautor der neuen Studie Prof. Dr. John William McEvoy, Professor für präventive Kardiologie an der National University of Ireland in Galway, zu Medscape. Er fügt hinzu: „Unsere Daten deuten darauf hin, dass ein diastolischer Druck über 80 mmHg nicht schädlich ist, wenn der systolische Druck unter 130 mmHg liegt. Und dass der neue Schwellenwert nur bedeutet, dass weitere 12 Millionen Erwachsene in den USA plötzlich als hypertonisch zu bezeichnen sind, aber von der Diagnose nicht profitieren und möglicherweise unnötig behandelt werden.“
Isolierte diastolische Hypertonie: Prävalenz auf 6,5% geschätzt
Die Empfehlung, den diastolischen Schwellenwert für Bluthochdruck von 90 mmHg auf 80 mmHg zu senken, wie es in den USA passiert ist, basierte auf Expertenmeinungen, nicht auf Studiendaten. Diese Änderung hatte erhebliche Auswirkungen auf die isolierte diastolische Hypertonie, die jetzt als ein systolischer Blutdruck unter 130 mmHg mit einem diastolischen Druck ≥ 80 mmHg definiert ist, schreiben die Autoren.
Mit der aktuellen Studie wollten die Forscher die Prävalenz der isolierten diastolischen Hypertonie unter Verwendung sowohl der neuen als auch der alten Definition abschätzen und die Assoziation beider Definitionen mit kardiovaskulären Erkrankungen, Herzinsuffizienz und chronischen Nierenerkrankungen bestimmen.
Die Untersucher benutzten das National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES, statistische Erhebung und Forschungsprogramm). Es umfasst 9.590 Erwachsene und ist so konzipiert, dass es landesweit repräsentativ für die erwachsene US-Bevölkerung ist. Unter Verwendung der neuen ACC/AHA-Leitliniendefinition von 2017 schätzten sie die Prävalenz der isolierten diastolischen Hypertonie auf 6,5%. Mit der alten Definition lag diese Zahl bei etwa 1,3%.
Unter den Personen, bei denen die Diagnose isolierte diastolische Hypertonie jetzt greift, erreichen etwa 0,6% auch den Schwellenwert der Leitlinie für eine antihypertensive Therapie, berichten McEvoy und seine Kollegen.
Keine Korrelation mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Die Autoren untersuchten dann die prognostischen Auswirkungen einer isolierten diastolischen Hypertonie mit den beiden Definitionen in 3 verschiedenen Längsschnitt-Kohorten.
Die Hauptanalyse wurde in der Studienkohorte Atherosclerosis Risk in Communities (ARIC) durchgeführt, die 8.703 Erwachsene mit 25-jährigem Follow-up umfasst und Informationen über das Risiko für atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankungen, Herzinsuffizienz und chronische Nierenerkrankungen liefert.
Diese Ergebnisse wurden dann in 2 externen Kohorten validiert, indem die Assoziation einer isolierten diastolischen Hypertonie mit der Gesamtmortalität und mit der kardiovaskulären Mortalität untersucht wurde.
Es zeigte sich keine signifikante Korrelation einer isolierten diastolischen Hypertonie, wie sie in den ACC/AHA-Leitlinien von 2017 definiert wurde, mit atherosklerotischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Hazard Ratio [HR] 1,06), Herzinsuffizienz (HR 0,91) oder chronischer Nierenerkrankung (HR 0,98) im Vergleich zu normotensiven ARIC-Teilnehmern.
Die Resultate ergaben auch keine Korrelation für die kardiovaskuläre Mortalität in den beiden externen Kohorten (HR 1,17 und 1,02; beide nicht signifikant).
Zudem gab es keine signifikanten Assoziationen mit der isolierten diastolischen Hypertonie nach der älteren Definition oder mit irgendwelchen anderen unerwünschten Outcomes.
12 Millionen neue Patienten?
Für McEvoy haben diese Ergebnisse viele wichtige Implikationen: „Wenn jemand einen normalen systolischen Blutdruck hat (unter 130 mmHg nach den neuen Leitlinien), deuten unsere Daten darauf hin, dass es nicht wirklich darauf ankommt, wie hoch sein diastolischer Wert ist.“
Der Kardiologe weiter: „Bei den meisten Menschen folgen der systolische und der diastolische Blutdruck einander sehr genau. Wenn der systolische Blutdruck also 130 beträgt, liegt der diastolische wahrscheinlich bei etwa 80. Bei manchen Menschen korrelieren diese Parameter jedoch nicht ganz so gut.“
„Bei manchen ist der diastolische Druck erhöht, und dies gilt mit dem neuen Richtwert von 80 mmHg jetzt für viel mehr Menschen. Wir schätzen, dass nun bei 12 Millionen weiteren US-Erwachsenen eine isolierte diastolische Hypertonie diagnostiziert wird. Und da die Leitlinien nicht zwischen verschiedenen Arten von Bluthochdruck unterscheiden, können sie als überhöht eingestuft und behandelt werden“, so McEvoy.
Diskussion über Sinnhaftigkeit des neuen Schwellenwertes sollte folgen
Laut McEvoy gab es schon immer die Frage, ob eine isolierte diastolische Hypertonie mit nachteiligen Folgen verbunden ist. „Es kam unter der alten Definition, die 90 als Schwellenwert für den diastolischen Druck einsetzte, zu Grenzfällen, aber der neue Grenzwert von 80 bedeutet, dass bei mehr Menschen eine Hypertonie diagnostiziert wird, ohne dass es Evidenzen für einen damit verbundenen Nutzen gibt.“
Er sei ein starker Befürworter der neuen 130-mmHg-Schwelle für den systolischen Druck. „Aber eine Absenkung der diastolischen Schwelle von 90 auf 80 beruhte nur auf Expertenmeinung. Es gibt keine belastbaren Evidenzen für diese Empfehlung. Unsere Daten deuten darauf hin, dass ein diastolischer Wert über 80 nicht bedrohlich ist. Und ich halte es nicht für angemessen, den diastolischen Druck zur Grundlage einer Hypertonie-Diagnose zu machen und Behandlungsziele damit zu verknüpfen.“
Seiner Ansicht nach reichen die aktuellen Ergebnisse für eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit eines neuen diastolischen Schwellenwertes von 80 mmHg aus. „Weitere Studien aus anderen Kohorten sollten jedoch unsere Ergebnisse bestätigen.“
Das antwortete der Vorsitzende der Leitlinienkommission
In einem Kommentar zu der Studie für Medscape stimmte Prof. Dr. Paul Whelton zu, dass der systolische Druck das wichtigere Maß zur Bewertung des kardiovaskulären Risikos und für die Entscheidung über eine medikamentöse Behandlung sei. Whelton ist Professor für globale öffentliche Gesundheit an der Tulane University School of Medicine in New Orleans und Vorsitzender des ACC/AHA-Blutdruck-Leitlinienausschusses 2017.
„Dies gilt vor allem für die immer älter werdenden Menschen. Daher gilt in der ACC/AHA-Leitlinie von 2017 der systolische Blutdruck von unter 130 mmHg auch als alleiniger Zielparameter für Personen über 65 Jahre. Die zentrale Bedeutung des systolischen Blutdrucks wird in der Leitlinie auch mehrfach betont.“
Whelton weiter: „Die Kommission wollte den Ärzten jedoch etwas an die Hand geben, damit sie auf die Höhe des diastolischen Blutdrucks bei Erwachsenen in bestmöglicher Weise reagieren können.“
Er stellte fest: „Die aus RCT-Studien stammenden Evidenzen für den Nutzen einer antihypertensiven medikamentösen Therapie bei Erwachsenen mit einem diastolischen Druck über 90 mmHg sind stark. Sie basieren auf älteren Studien, doch konnte keine Studie den Nutzen einer solchen Behandlung bei Erwachsenen mit einem diastolischen Blutdruck zwischen 80 und 90 mmHg belegen. Die ACC/AHA empfahl eine Therapie in dieser Population, wenn es Anzeichen für eine frühere kardiovaskuläre Erkrankung oder ein erhöhtes 10-Jahres-Risiko für atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankungen gab, das nach Expertenmeinung auf 10+% eingeschätzt wurde.“
Es seien keine ereignisbasierten Behandlungsstudien bei Erwachsenen mit isolierter diastolischer Hypertonie durchgeführt worden, so Whelton, „und es gibt in der ACC/AHA-Blutdruckleitlinie 2017 keine Behandlungsempfehlung für diese Personengruppe.“ Daher kommt Whelton zu dem Schluss, „dass der neue JAMA-Bericht zwar interessant ist, aber keinen direkten Einfluss auf die Empfehlungen der ACC/AHA-Leitlinie 2017 hat.“
McEvoy stimmt Whelton in diesem Punkt jedoch nicht zu. „Diese Leitlinien senken den diastolischen Blutdruckgrenzwert für Hypertonie sehr deutlich von 90 mmHg auf 80 mmHg und haben als solche große Auswirkungen auf die Diagnose und eine mögliche Behandlung der isolierten diastolischen Hypertonie“, antwortete er.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: In USA beginnt die diastolische Hypertonie bereits bei 80 mmHg. Eine Studie sagt, das bringt nichts – außer Übertherapie - Medscape - 14. Feb 2020.
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