Wie viele Kollegen ihres Faches war die Psychiaterin Dr. Madeline Li aus Toronto skeptisch, als einer ihrer Kollegen vorschlug, eine Studie über die Wirkung von Ketamin bei Depressionen in der palliativen Onkologie durchzuführen. Aber jetzt, nachdem sie etwa 15 Patienten behandelt hat, ist sie bekehrt. „Die Effekte, die ich sah, waren bemerkenswert“, sagt die Ärztin und Wissenschaftlerin am Department of Supportive Care des Princess Margaret Cancer Center im kanadischen Toronto.
Ihre Untersuchung ist die einzige registrierte Studie, die sich mit der Anwendung von Ketamin speziell zur Behandlung von Depressionen bei Krebspatienten befasst. Obwohl das Team bisher nur 5 Patienten rekrutiert hat, „haben sie alle bemerkenswerte Ergebnisse erzielt“, berichtet sie. „Innerhalb von nur einer Stunde nach der ersten Dosis fühlten sie sich anders, und sie waren sich nicht einmal sicher, wie sie das beschreiben sollten. Ich war sehr überrascht.“ Ziel der Studie ist es, mehr Patienten aufzunehmen, um sie randomisiert und Placebo-kontrolliert gestalten zu können.
Inzwischen hat Li aufgrund ihrer Beobachtungen damit begonnen, ihren anderen Krebspatienten mit mäßiger bis schwerer Depression ebenfalls Ketamin anzubieten. „Ich habe es jetzt an vielleicht 10 ambulanten Patienten off-label ausprobiert und es hat bei vielleicht 6 von ihnen funktioniert, also nicht bei allen.“
Eine Fallgeschichte
Einer der erfolgreich behandelten Patienten war der 78-jährige Jim Newman. Sein Ansprechen auf die Ketamin-Gabe sei ein Wendepunkt gewesen, sagt seine Frau Louise Roberge. Er hatte ein Ösophaguskarzinom und nach einer Not-Ösophagektomie im Oktober 2018 konnte er weder essen noch trinken oder gar schlucken, berichtet sie Medscape. „Er verließ die Klinik, nachdem man uns gesagt hatte, er habe noch 8 bis 13 Monate – und jetzt sind es schon 14“, sagt sie lächelnd. „Er hat die Statistik besiegt.“
Während dieser Monate versank ihr Mann jedoch in eine tumorbedingte Fatigue und Depression. 2 Chemotherapie-Zyklen setzten ihm derart zu, dass er die Behandlung abbrach und seinen zuvor so aktiven Lebensstil verlor. Skifahren, Golfen, Tennis, Angeln – nichts schien mehr möglich. Als Li dann Ketamin anbot, dachte das Paar: „Was haben wir schon zu verlieren?“
„Ich habe dadurch meinen Mann zurückbekommen“, sagt Roberge und blättert durch die Fotos des vergangenen Sommers auf ihrem Boot, seinen Tag auf dem Golfplatz und der Fische, die er mit einem Freund geangelt hat. „Schon nach der ersten halben Dosis im Krankenhaus … was für ein Unterschied“, sagt sie lachend. Sie beschreibt, wie sich Jims Schleier der Depressionen lüftete und wie er aufblickte und mit ihr sprach.
Ihr Mann stimmt ihr zu, dass das Medikament ihn verwandelt hat: „Die Reaktion, die ich fast augenblicklich spürte – und es geschah tatsächlich fast augenblicklich – war, dass ich mich nicht mehr depressiv fühlte“, sagt er gegenüber Medscape.
„Ich kann mich nicht mehr wirklich daran erinnern, wie ich vorher war, aber ich weiß, dass ich sehr negativ empfand“, berichtet er. Tatsächlich hatte er die Genehmigung für eine MAID (medical assistance in dying = ärztliche Sterbehilfe) beantragt und die Bewilligung erhalten, doch nach der Ketamin-Kur war er von diesem Gedanken wieder abgerückt.
Ketamin bereits bei therapieresistenten Depressionen zugelassen
Ketamin ist ein alter Wirkstoff. Er wurde ursprünglich 1970 von der FDA als i.v.- oder i.m.-Anästhetikum für den Einsatz bei diagnostischen und chirurgischen Eingriffen zugelassen. Heute ist er weit verbreitet. Im Off-label-Use wurde bzw. wird es zur Behandlung von hartnäckigen Depressionen und starken Schmerzen eingesetzt. Kürzlich wurde seine Verwendung in der Alkoholtherapie geprüft.
Daneben wird Ketamin auch als Partydroge unter den Namen „Special K“, „Vitamin K“, „Kate“ oder einfach „K“ geschnupft, geschluckt, geraucht oder gespritzt.
Das intranasale neue Ketamin-Enantiomer Esketamin (Spravato®, Janssen) wurde letztes Jahr von der FDA für die Behandlung von therapieresistenten Depressionen zugelassen, obwohl diese Zulassung unter Experten einige Bedenken aufwarf.
Li mutmaßt gegenüber Medscape, dass Ketamin ein einzigartiges Potenzial insbesondere für krebsbedingte Depressionen haben könnte. „In der Palliativmedizin reicht oft die Lebenserwartung der Menschen nicht für den langsamen Wirkungseintritt eines Standard-Antidepressivums aus. Sie benötigen etwas, das schnell wirkt“, erklärt sie.
Ebenfalls in Toronto und keine Stunde von Lis Klinik entfernt setzt ein anderes Team Ketamin in der Therapie psychiatrischer Störungen ein. Seit Juni 2018 wird am dortigen Rapid Treatment Center of Excellence den Patienten mit schweren depressiven Störungen, bipolaren Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder Zwangsstörungen eine Ketamin-Infusionstherapie angeboten.
Das Zentrum wird von Dr. Roger McIntyre geleitet, der auch Professor für Psychiatrie und Pharmakologie an der Universität Toronto ist und die Abteilung für die Psychopharmakologie affektiver Störungen im University Health Network leitet.
Er zeigt sich gegenüber Medscape von den Vorteilen von Ketamin bei dieser Population, zu der er auch palliative Krebspatienten zählen würde, überzeugt. „Es ist ein sehr interessantes Gebiet und für den Ketamineinsatz gut geeignet“, sagt er im Interview. „Palliativpatienten benötigen nicht nur eine effektive, sondern auch eine sehr schnell wirkende Therapie. Die Zeit läuft ihnen davon und Ketamin kann seine Wirkung schon nach 1 bis 2 Tagen entfalten. Ein weiterer Punkt sind die in der Palliativmedizin verbreiteten Schmerzen und Ketamin wird seit Jahrzehnten in der Schmerzbekämpfung eingesetzt. Es gibt also mehrere Gründe, die für einen Einsatz von Ketamin sprechen.“
Nachhaltiger Effekt durch Ketamin
Die meisten verabreichen Ketamin i.v., doch Li ist es gelungen, es als Nasenspray anzubieten. „Die FDA hat diese Darreichungsform genehmigt, aber wenn man sich die Studien anschaut, ist Esketamin nicht so gut wie Ketamin“, sagt sie. „In meiner Studie verwenden wir ein Nasenspray mit derselben Konzentration, die auch bei der i.v.-Gabe verwendet wird.“
Die Patienten der Palliativstation kommen für die Studie infrage, wenn sie an einer mittleren bis schweren Depression leiden. Sie werden dann an den Tagen 1, 5 und 7 initial mit einer Dosierung von 50 mg intranasal behandelt. Die Dosis wird dann auf 50 bis 100 mg und schließlich auf 100 bis 150 mg erhöht. Am 8. Tag wird das Hauptzielkriterium mithilfe der Montgomery-Åsberg Depressions-Ratingskala (MADRS) bewertet. Die Behandlung wird dann abgebrochen.
„Ein primäres Ziel ist es, zu sehen, wie lange die Wirkung anhält. Deshalb messen wir die MADRS am 10. und 14. Tag erneut und in der Regel sehen wir, dass die Depression am 14. Tag zurückgekehrt ist. Zu diesem Zeitpunkt können die Patienten dann wählen, ob sie die Behandlung fortsetzen möchten“, so Li.
Die meisten Patienten nehmen dann 2-mal wöchentlich Ketamin und erzielen einen nachhaltigen Effekt. „Diesen Aspekt finde ich besonders überzeugend“, sagte Li. „Es ist nicht so, dass man ihnen Kokain gibt und sie sich für ein paar Stunden besser fühlen. Es gibt tatsächlich einen anhaltenden Nutzen, der mehrere Tage andauert.“
Die Ergebnisse seien nicht nur quantitativ, fügt sie hinzu. „Ich bin von der qualitativen Wirkung dieses Medikaments beeindruckt. Die Angehörigen sagen: „Ich habe ihn oder sie seit Monaten nicht mehr so erlebt.“ Die Patienten sind viel entspannter, lächeln viel und haben viel mehr Energie. Es sind die Familienmitglieder, denen das auffällt und die dann sagen: ‚Das ist ein Wunder. Es geht ihm viel besser.‘.“
Ketamin bei Depressionen in der Palliativmedizin bisher kaum genutzt
In der gegenwärtigen Renaissance psychedelischer Wirkstoffe in Medizin und Forschung hat Ketamin bei Depressionen in der Palliativmedizin bisher keine Berücksichtigung gefunden. Das liegt teilweise daran, dass es normalerweise über mehrere Stunden intravenös verabreicht wird, was für diese stark geschwächte Zielpopulation bislang jedoch zu eingreifend war. Vor allem aber lag es daran, dass es weitgehend von dem eher klassischen psychedelischen Psilocybin überschattet wurde.
In einigen kleinen Studien wurden nämlich eindrucksvolle Ergebnisse mit Psilocybin in der Behandlung von Depressionen bei onkologischen Patienten erzielt, was mitunter als Wendepunkt betrachtet wurde.
Wahrscheinlich haben jedoch beide Substanzen in der Therapie krebsbedingter Depressionen einen Platz, da sie chemisch sehr unterschiedlich sind und zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen.
„Die klassischen Psychedelika, darunter Psilocybin, wirken am Serotonin-Rezeptor, während Ketamin am NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor ansetzt“, erklärt Dr. Daniel Rosenbaum, Psychiater an der Universität Toronto und Hauptautor eines kürzlich erschienenen Reviews zum Thema Psychedelika in der Palliativmedizin.
Die Vorteile von Psychedelika wie Psilocybin bestehen darin, dass sie zu „mystischen Erfahrungen“ führen könnten, erklärt er. „Derartige Erfahrungen vom mystischen Typ zeichnen sich durch Gefühle der Einheit, durch eine noetische Qualität (d.h. das Gefühl der tiefen Einsicht in letzte Wahrheiten), religiöse Gefühle, tief empfundene positive Stimmungen, Transzendenz von Raum und Zeit und Unbeschreiblichkeit (d.h. das Gefühl, dass die Erfahrung nicht angemessen mit Worten beschrieben werden kann) aus“, schreibt er in seinem Review.
Im Gegensatz dazu führe Ketamin in antidepressiv wirksamer Dosierung nicht zu einem veränderten Bewusstsein. „Die Leute geben an, sich ein wenig schwebend zu fühlen, aber bei diesen Dosierungen treten keine außerkörperlichen oder dissoziativen Erfahrungen oder Ähnliches auf, wie es beim Psilocybin der Fall ist“, sagt Li. „Sie sind nicht high, sie haben keine tiefere Verbindung mit Mutter Erde und auch keine Nahtoderfahrung gehabt. Sie sind am nächsten Morgen einfach genauso wie ihre Familie davon überrascht, wie viel besser sie sich fühlen.“
Und während ein Psilocybin-Trip viele Stunden dauert und mit medikamentengestützter Psychotherapie kombiniert wird, besteht die Ketaminbehandlung aus nur einem Hub in jedes Nasenloch.
„Ich glaube, das Ziel ist ein anderes“, sagt Li zu dem Vergleich der beiden Substanzen. „Ketamin ist eigentlich ein Antidepressivum, aber Psilocybin zielt auf existenzielle Ängste ab. Es vermittelt eine transzendente Erfahrung, die einem die Angst vor dem Sterben etwas nehmen kann.“
Für sie war jedoch auch interessant, dass Ketamin manchen Patienten dabei geholfen hat, ihr Schicksal anzunehmen und dem Tod ins Auge zu sehen. Während Patienten wie Jim Newman ihre MAID-Option nach der Ketamin-Einnahme wieder fürs Erste verworfen haben, fühlten sich andere jetzt erst dazu ermutigt.
„Manche Patienten empfanden nach dem Auftauchen aus der Depression ihr Denken klarer und fühlten sich weniger schuldig, wenn sie sich entschieden, die Option des assistierten Suizids weiter zu verfolgen“, berichtet sie. „Ich hatte eine Patientin mit einer bewilligten MAID-Option, die jedoch Angst davor hatte, einen Termin festzulegen, weil ihre Familie dagegen war. Sie fühlte sich schuldig, weil sie sich entschieden hatte, sie früher als nötig zu verlassen. Nachdem die Depression durch die Ketamingabe verschwunden war, fühlte sie anders: „Das ist nicht das Leben, das ich führen will. Ich bin mir jetzt wirklich ganz sicher. Meine Familie wird mich sowieso verlieren, und ihre Trauer wird nicht anders sein, ob ich nun die MAID nutze oder auf meinen natürlichen Tod warte. Deshalb setze ich jetzt einen Termin fest.“
Li hofft, dass ihre aktuelle Machbarkeitsanalyse zu einer randomisierten Studie führen wird, obwohl sie bisher nur 5 Patienten rekrutiert hat. Genauso viele Teilnehmer hatte die bislang einzige andere Studie, die Ketamin (eine einzige orale Dosis) bei depressiven onkologischen Patienten untersucht hatte. Diese Studie war Anfang 2014 nach 2 Jahren beendet worden.
Die damaligen Ergebnisse waren jedoch weniger positiv als das, was Li jetzt sah. „Ich wünschte, ich könnte nützlichere Dinge vorbringen“, kommentiert Dr. Robert Bright, damals leitender Prüfarzt der Studie von der Mayo Clinic in Scottsdale, Arizona. „Einem Patienten wurde übel und er erbrach die verabreichte Dosis kurz nach der Einnahme. Niemand hatte irgendwelche psychotischen oder dissoziativen Reaktionen, und bei keinem ließ sich eine nennenswerte Verbesserung feststellen. Die Verblindung war intakt, sodass ich nicht weiß, wer Placebo und wer Ketamin bekam.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Und plötzlich wie umgewandelt: Ketamin zeigt Wirkung bei Depressionen in der palliativen Onkologie - Medscape - 13. Feb 2020.
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