Nach einer neuen Untersuchung sind in jungen Jahren auftretende Ereignisse wie Unglücksfälle, Vernachlässigung sowie körperlicher, emotionaler und sexueller Missbrauch die größten Risikofaktoren für die Entwicklung psychiatrischer Störungen. In einem als wegweisend bewerteten Review kommen die Untersucher der Dell Medical School in Austin, Texas, zu dem Schluss, dass Misshandlungen in der Kindheit „mit Abstand“ der größte Risikofaktor für gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Erwachsenen sind. Die Ergebnisse wurden im American Journal of Psychiatry publiziert [1].

Charles Nemeroff, MD, PhD
Körperlich ist ein Missbrauch in jungen Lebensjahren mit einer geringeren Lebenserwartung verbunden, da das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Adipositas, Diabetes und bestimmte Krebsformen erhöht ist, so der Mitverfasser der Studie Prof. Dr. Charles Nemeroff gegenüber Medscape. Er ist Leiter der Psychiatrie an der Mulva-Klinik für Neurowissenschaften der Dell Medical School und Direktor eines Instituts, das sich mit der Erforschung von früh traumatisierten Personen befasst.
Was die psychiatrischen Auswirkungen von Misshandlungen betrifft, „so erhöhen sie das Risiko für Depressionen, Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie Suizid und verschlechtern zudem den Verlauf aller untersuchten psychiatrischen Störungen“, fügte er hinzu.
Werden die Misshandlungsraten unterschätzt?
2 neuere deutsche repräsentative Studien kommen zu dem Ergebnis, dass etwa 15% der Erwachsenen in Deutschland in der Kindheit und Jugend sexuelle Gewalterfahrungen machen mussten. Diese Zahl ist nur bedingt auf heutige Kinder und Jugendliche übertragbar. Zum einen wurden keine Kinder befragt und zum anderen ist nicht bekannt, ob die veränderten Risiken der heutigen Kindheit Einfluss auf die Häufigkeit von sexueller Gewalterfahrung haben.
Zwischen 2010 und 2017 hat sich jedenfalls in Deutschland die Zahl der gemeldeten Fälle von sexuellem Kindes- und Jugendlichen-Missbrauch praktisch nicht verändert (ca. 13.000 Fälle pro Jahr). Allerdings ist natürlich von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Die WHO geht davon aus, dass in Deutschland rund eine Million Mädchen und Jungen leben, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben.
Schließlich noch schwerer fassbar und mengenmäßig abschätzbar sind „weitere Arten von Misshandlungen in der Kindheit wie emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung, die eventuell nie klinische Aufmerksamkeit erregen, aber unabhängig von körperlichem Missbrauch und Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch verheerende Folgen für die Gesundheit haben“, schreiben Nemeroff und die Mitautorin Dr. Elizabeth Lippard.
Unter Hinweis auf eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse, die zeigt, dass 46% der Patienten mit Depressionen in der Kindheit Misshandlungen erfahren haben, stellen die Autoren auch fest, dass bis zu 57% der Patienten mit bipolarer Störung auch im hohen Maße von Kindesmisshandlung und/oder Vernachlässigung berichten.
Die Forschung deutet auch darauf hin, dass Misshandlungen in der Kindheit mit schlechten Behandlungsergebnissen bei Patienten mit Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) oder bipolarer Störung verbunden sind. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, eine detaillierte Trauma-Anamnese durchzuführen, sagte Nemeroff.
„Es ist äußerst wichtig, dass Ärzte eine möglichst präzise Anamnese der kindlichen Traumen erheben können, damit sie wissen, womit sie es zu tun haben. Viele Patienten geben von sich aus keine Erinnerungen über negative Erfahrungen aus ihrer Kindheit oder Jugend preis und schon gar nicht bei der ersten Konsultation“, sagte er.
„Wir müssen versuchen herauszufinden, wie diese Patienten am besten behandelt werden können, weil sie auf konventionelle Behandlungen mit Medikamenten oder Psychotherapien nicht gut ansprechen“, sagte Nemeroff.
Die Forschung befasst sich mit Zeitpunkt, Dauer und Schwere der Misshandlungen in der Kindheit. Aus manchen Studien geht hervor, dass Misshandlungen, die sich zu einem früheren Zeitpunkt im Leben ereignen und über einen längeren Zeitraum erfolgen, mit einem schlechteren Outcome verbunden sind. Die Autoren betonen jedoch auch, dass Misshandlungen zu jedem Zeitpunkt in der Kindheit das Risiko für affektive Störungen erhöhen.
Der Review greift auch Studien zu Mobbing-Folgen auf. Es gibt zwar immer wieder Berichte darüber, dass Cybermobbing häufig Suizide provoziert, was offenbar bei Frauen häufiger vorkommt als bei Männern, doch seien viele der Daten in diesem Bereich rein „anekdotisch“, so Nemeroff.
Weit verbreitet, kaum erforscht
Hinsichtlich der Subtypen von Misshandlungen in der Kindheit sind der emotionale Missbrauch und die Vernachlässigung in der Vorgeschichte psychiatrischer Patienten wahrscheinlich am häufigsten, so die Autoren, aber zugleich am wenigsten erforscht.
Dies liege teilweise daran, dass den Patienten, die eine solche Art von Missbrauch erlebt haben, im Vergleich zu Patienten mit körperlichem und sexuellem Missbrauch mit oftmals körperlichen Verletzungen in der Regel am wenigsten klinische Aufmerksamkeit zuteilwird.
„In vielen, aber nicht in allen Studien ist die Vernachlässigung mit verheerenden Folgen in Bezug auf affektive und Angststörungen verbunden“, sagt Nemeroff, fügt jedoch hinzu, dass nur wenige Personen eine einzige isolierte Art von Missbrauch erlitten hätten. „Meistens sind die Betroffenen das Opfer von verschiedenen Missbrauchsformen, also körperlich, sexuell und emotional.“
Misshandlungen in der Kindheit und die Folgen
Nach neueren Erkenntnissen erhöhen Misshandlungen in der Kindheit das Risiko für affektive Störungen und ein Fortschreiten der Erkrankung über entzündliche Prozesse, wie Messungen von Werten wie dem C-reaktiven Protein (CRP) und von an Entzündungen beteiligten Zytokinen wie Tumornekrosefaktor-alpha und Interleukin-6 zeigten.
Entzündungshemmende Medikamente sind ein vielversprechender neuer Behandlungsansatz bei depressiven Patienten mit erhöhten Entzündungsmarkern. Allerdings ist dies bislang nur eine vorläufige Einschätzung, so die Autoren.
Ein weiterer potenzieller Mechanismus ist die Veränderung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse („Stressachse“), die endokrine, Verhaltens-, Immun- und autonome Reaktionen auf Stress regulieren.
Die genetische Veranlagung spielt wahrscheinlich auch eine Rolle bei der Pathogenese von affektiven Störungen nach längeren und größeren Stresseinflüssen in jungen Jahren. Nur 35 bis 40% der Personen, die traumatischen Ereignissen ausgesetzt waren, entwickeln eine PTBS, sagte Nemeroff. „Das ist wahrscheinlich weitgehend genetischen Faktoren geschuldet.“
Für ihn sind ein gutes Dutzend Gene an der Vulnerabilität für psychiatrische Störungen nach einer Traumaerfahrung beteiligt, von denen jedes einen kleinen Teil zu der Anfälligkeit beiträgt.
Transgenerationale epigenetische Traumavererbung
Die Autoren weisen auch auf neue Forschungsarbeiten im komplexen Bereich der transgenerationalen Traumatisierung hin (unbewusste Weitergabe von Traumaerlebnissen an die eigenen Nachkommen). Dieses Phänomen wurde bislang vor allem bei Holocaust-Opfern untersucht.
„Es hat sich jedoch gezeigt, dass, wenn ein Individuum traumatisiert ist, auch seine Keimzellen auf der epigenetischen Ebene verändert werden können“, sagte Nemeroff. „Auf diese Weise kann das Kind, das ein Produkt dieser Keimzellen ist, die Traumafolgen früherer Generationen mit sich tragen.“
In manchen Arbeiten ließen sich strukturelle und funktionelle Veränderungen in bildgebenden Untersuchungen des Gehirns zeigen, die in Zusammenhang mit Misshandlungen in der Kindheit gebracht wurden. So fanden sich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen frühen Missbrauchserfahrungen und einem geringeren Volumen und einer geringeren Dicke der Hirnrinde im ventralen und dorsalen präfrontalen Kortex, einschließlich des orbitofrontalen und des anterioren zingulären Kortex, im Hippocampus, in der Insula und im Striatum.
Neuere Studien deuten auch auf einen Zusammenhang mit einer verminderten strukturellen Integrität der weißen Substanz innerhalb und zwischen diesen Regionen hin.
„Verschiedene Arten von Missbrauch und Vernachlässigung führen zu unterschiedlichen Veränderungen im Gehirn. Vermutlich hängt dies teilweise damit zusammen, wie alt das Kind zum Zeitpunkt der Traumatisierungen ist“, sagte Nemeroff.
Die Forscher verstehen zunehmend besser, warum nicht alle Menschen, die in der Kindheit traumatisiert wurden, eine affektive Störung entwickeln. Sowohl Umweltfaktoren als auch Gene spielten in den Zusammenhang zwischen erlebtem Missbrauch und affektiven Störungen hinein, so die Autoren weiter. Die Forschungsergebnisse zeigen aber auch, dass soziale Unterstützung und sichere Bindungen das Depressionsrisiko abfedern können.
3 entscheidende Forschungsschwerpunkte
Für Nemeroff gibt es auf diesem Gebiet 3 entscheidende Forschungsschwerpunkte:
Sind Veränderungen des Gehirns und des Körpers infolge von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit reversibel?
Wie sieht die optimale Behandlung für diese Patienten aus?
Und wie lassen sich Personen mit einem erhöhten Risiko für die Folgen einer frühkindlichen Traumatisierung am besten identifizieren?
„Es wird nicht mehr lange dauern, bis das persönliche Genprofil Teil der elektronischen Krankenakte wird“, sagte Nemeroff. „In anderen Bereichen suchen wir ständig nach genetisch bedingten Erkrankungen. Warum sollten wir das nicht auch bei solchen Fragen tun?“
Wenn Risikopatienten identifiziert werden, könnten sich die Interventionen zudem je nach Ursache auf die Familie, auf Alleinerziehende, auf sozial schwache Familien oder etwa Eltern mit 2 Jobs konzentrieren, sagte Nemeroff.
Neben der wichtigen Ausbildung von Therapeuten, Lehrern und Pflegepersonal spiele es auch eine große Rolle, die behandelnden Ärzte in der sorgfältigen Erhebung derartiger Anamnesen und Evaluationen zu unterweisen.
Stärken und Grenzen des Reviews
Prof. Dr. David Fassler, Psychiater am Larner College of Medicine der University of Vermont in Burlington, hob hervor, wie „umfassend“ der Review sei. Die Autoren zeigten, „dass die verfügbaren Forschungsergebnisse durchweg die Feststellung stützen, dass Misshandlungen in der Kindheit das Risiko für affektive Störungen erhöhen“, so Fassler gegenüber Medscape.
„Die Autoren gehen auch angemessen auf die Grenzen ihres Reviews ein, wobei sie auf die unterschiedlichen Definitionen von Misshandlung und den Einsatz unterschiedlicher Messmethoden in den einzelnen Studien hinweisen“, sagt er.
Angesichts der Prävalenz von Misshandlungen in der Kindheit unterstreiche der Review, „wie wichtig umfassende Anstrengungen sind, die junge Menschen vor solchen traumatischen und schädlichen Erfahrungen schützen sollen. Ich hoffe, dass die Ergebnisse auch bei der zukünftigen Erforschung der Behandlung und Prävention von affektiven Störungen bei Erwachsenen Berücksichtigung finden“, sagt Fassler.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Der „mit Abstand“ größte Risikofaktor für psychiatrische Störungen hat seine Wurzeln meist in der Kindheit - Medscape - 12. Feb 2020.
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