Berlin – Alle reden von der schwierigen Situation der medizinischen Versorgung auf dem Land. Dabei stünden Städte und Ballungsräume der Republik ebenfalls vor großen Herausforderungen bei der medizinischen Versorgung. Das betonte Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI), auf dem Jahreskongress des Bundesverbandes Managed Care (BMC) im Januar in Berlin auf der Veranstaltung „Versorgungsansätze in Ballungszentren“ [1].
Denn die Städte wachsen – vor allem Berlin, Hamburg, München und das Rhein-Main-Gebiet. Auf dem Land sinke indessen die Bevölkerungsdichte. In den Jahren 2000 bis 2016 wuchs die Bevölkerung in den kreisfreien Großstädten Deutschlands um 4,9%. Auch in den dünn besiedelten Gebieten wuchs die Bevölkerung – aber nur um 0,8%.
Vom Schwund sind vor allen die ostdeutschen Länder betroffen. Einzig Berlin und der Speckgürtel der Hauptstadt sowie Dresden oder Leipzig gehören zu den Bevölkerungsmagneten im Osten. Ihre Bevölkerung wuchs zwischen 2012 und 2017 um 6,6%.
Mehr Depressionen und Angststörungen in der Stadt als auf dem Land
„Die Ballungsräume haben besondere Bedarfslagen“, erklärte von Stillfried. „Stadt und Land haben zwar ungefähr die gleiche Bedarfsmenge. Der Bedarf unterscheidet sich aber im Detail.“ So habe zum Beispiel eine Metaanalyse von rund 40 Studien aus Industrienationen ergeben, dass sich bei Städtern 39% mehr Depressionen finden und 20% mehr Angststörungen als bei der Landbevölkerung.
Auch die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) des Robert Koch-Instituts (RKI) aus den Jahren 2008 bis 2011 ergab: Depressionen sind in der Großstadt deutlich häufiger als in Kleinstädten, das Verhältnis betrage 9,4% zu 5,8%. Auch bei der Drogensubstitution liegen die Städte vorne.
Machen große Städte also krank?, fragte von Stillfried. Jedenfalls liegen kreisfreie Großstädte bei Asthma bronchiale und Depressionen gemessen an der Morbidität vor Kreisstädten, ländlichen Gegenden und dem dünn besiedelten Land vorn. Bei Bluthochdruck und Herzinsuffizienz ist das Verhältnis umgekehrt – hier liegen die Patienten aus dünn besiedelten Landstrichen vorn. Hier dürfte auch das Alter der Patienten aus den verschiedenen Regionen durchschlagen, so von Stillfried.
Zwar sei auch die Arztdichte in den Ballungsräumen höher, um den Bedarf in den Städten zu decken: in Städten rund 230 pro 100.000 Einwohner, auf dem Land rund 155 pro 100.000 Bewohner. Aber nirgends stellen Ärzte pro Kopf weniger Arztzeit zur Verfügung als in den Kernstädten, Tendenz – sinkend, so von Stillfried.
Viele Ärzte sind angestellt und arbeiten in Teilzeit. Zugleich müssen die Ärzte in den Städten die Speckgürtel mitversorgen. „Um den Versorgungsunterschied zwischen Stadt und Land auszugleichen, genügt es also nicht, Ärzte aus den Städten einfach auf das Land zu transferieren“, sagte von Stillfried. Der Bedarf in den Ballungsräumen werden insgesamt wachsen, prognostizierte der ZI-Chef.
Gesundheitsversorgung auf dem Kiez braucht kleinräumige Bedarfsplanung und regionale Budgets
Dass es auch innerhalb der Städte zu großen Morbiditätsunterschieden kommt, berichtete Dr. Patricia Hänel vom Berliner Gesundheitskollektiv (GeKo). Die Städte sind Orte ausgeprägter sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit. Arm und Reich leben eng beieinander.
„Die Kieze ändern sich zudem ständig in sich, und sie unterscheiden sich stark voneinander. In Neukölln zum Beispiel stirbt man früher als im wohlhabenderen Zehlendorf“, sagte Hänel. 20,6% der Kinder in Neukölln leiden unter Adipositas, in ganz Berlin sind es nur 9,8%.
Der Kiez hat mehr Säuglinge mit niedrigem Geburtsgewicht, die höchste Säuglings- und Perinatal-Sterblichkeit in ganz Berlin, eine erhöhte Rate von Krebserkrankungen, alkoholbedingten Lebererkrankungen und die geringste Lebenserwartung in ganz Berlin, zählte die Ärztin auf. Zugleich fehlen im Kiez ganz besonders Hausärzte und Psychotherapeuten.
Glaubt man Hänel, dann ist das Gesundheitssystem auf die vielschichtigen Herausforderungen in schwierigen Stadtteilen nicht vorbereitet. Um die vielen Gesundheitsprobleme anzupacken, brauche es eine kleinräumige Bedarfsplanung, und die soziale Situation muss dabei mitgeplant werden, sagte Hänel. So bieten die Leute vom GeKo ihre Beratung dort an, wo man sie in der Regel nicht vermutet: in Moscheen, in Schulen, den Vorräumen von Schwimmbädern, in Kitas.
In diesem Jahr will die GeKo ihr medizinisches Angebot noch besser im Kiez verankern und mit dem multiprofessionellen „Stadtteilgesundheitszentrum Nord-Neukölln“ eine feste Adresse erhalten, berichtete Hänel. Viel hat das Kollektiv bereits angeschoben: Räume seien bereits gefunden, der Bedarf auf dem Kiez ist geklärt.
Inzwischen haben sich 3 Mediziner der Initiative auf je einen Kassensitz in der Nähe des neuen Zentrums beworben – ein Allgemeinmediziner, ein Kinderarzt und eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Die Robert-Bosch-Stiftung fördert das Projekt, auch der Berliner Senat finanziert es mit. Aber Geldmangel bleibe ein ständiges Problem, sagt Hänel.
„Es sind nur die Ärzte, die bei uns das Geld verdienen und die die Kredite tragen müssen“, sagte Hänel. Die übrige – vor allem soziale – Arbeit erledigen Ehrenamtliche, Ärzte oder Medizinstudierende. „Dabei sind auch nicht-ärztliche Leistungen für unsere Patienten sehr wichtig, aber sie werden nicht finanziert“, sagte Hänel. Deshalb wünscht sich die Berliner Initiative für den Kiez ein regionales Budget, das auch nicht-ärztliche Leistungen vergütet.
Es geht dem basisdemokratischen Gesundheitskollektiv eben nicht nur um medizinische Leistungen, sondern um viel mehr: um Stadtteil-politische Arbeit, Mitbestimmung aller Zentrumsnutzer und auch um Forschung. Eine isolierte medizinische Versorgung wird es in dem neuen Zentrum also sicher nicht geben. Hänel: „Wir würden zum Beispiel gerne auch einen Graffiti-Künstler anstellen.“
Medscape Nachrichten © 2020
Diesen Artikel so zitieren: Nicht nur auf dem Land ist die Gesundheitsversorgung schwierig, auch in Ballungsräumen gibt es viele Herausforderungen - Medscape - 11. Feb 2020.
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