Dick und depressiv, schlank und schizophren? Beides könnte durch die gleichen Risiko-Allele bedingt sein

Michael Vlessides

Interessenkonflikte

3. Februar 2020

Ein internationales Forscherteam ist zu dem Schluss gekommen, dass es einen engen genetischen Zusammenhang zwischen Körpergewicht und psychiatrischen Erkrankungen gibt. Die Studie wurde am 8. Januar in der Zeitschrift JAMA Psychiatry online veröffentlicht [1].

Auf der Basis von über 500.000 Daten von Patienten mit schweren Depressionen, bipolaren Störungen (BAS, bipolare affektive Störung) und Schizophrenie konnten die Untersucher weitreichende genetische Überschneidungen zwischen dem Body-Mass-Index (BMI) und diesen psychiatrischen Störungen feststellen.

Sie fanden dabei heraus, dass die genetischen Risikovarianten für schwere Depressionen und BAS in erster Linie mit einem erhöhten Gewicht assoziiert waren, während die Mehrzahl der genetischen Varianten für Schizophrenie mit einem geringeren Gewicht zusammenhing.

„Diesen Unterschied fanden wir sehr interessant“, sagt der Leiter der Untersuchung Prof. Dr. Ole A. Andreassen, und, gegenüber Medscape. „Die meisten Genvarianten, die sich bei BMI und Depression/bipolare Störung überlappen, gingen in die gleiche Richtung und waren mit einem höheren BMI verbunden.“

 
Ist man also für einen erhöhten BMI anfällig, besteht auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Depression oder eine bipolare Störung. Bei der Schizophrenie ist es genau umgekehrt … Prof. Dr. Ole A. Andreassen
 

„Ist man also für einen erhöhten BMI anfällig, besteht auch eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Depression oder eine bipolare Störung“, folgert Andreassen, der Professor an der Universität Oslo ist. „Bei der Schizophrenie ist es genau umgekehrt: Wenn man ein erhöhtes Schizophrenierisiko aufweist, ist die Wahrscheinlichkeit für Fettleibigkeit geringer.“

Geringere Lebenserwartung

Für Personen mit schweren psychiatrischen Störungen ist die Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um 10 bis 20 Jahre vermindert. Dieser Unterschied, so die Untersucher, sei vor allem auf die hohen Raten an kardiometabolischen Risikofaktoren wie Adipositas zurückzuführen, die in signifikantem Ausmaß an kardiovaskulären Komorbiditäten beteiligt sind.

Obwohl sowohl Verhaltens- und Lebensstilfaktoren als auch Psychopharmaka signifikante nachteilige Folgen für den Stoffwechsel haben können, wird der polygene Charakter der wichtigsten psychiatrischen Störungen immer deutlicher. Tatsächlich gibt es eine große erbliche Komponente sowohl für die Adipositas als auch für schwere psychiatrische Störungen.

Darüber hinaus haben frühere genomweite Assoziationsstudien (GWAS) gemeinsame Varianten identifiziert, die an BMI und Schizophrenie, BAS und schweren Depressionen beteiligt sind. Dennoch existieren immer noch relativ wenige Daten über genetische Varianten, die sowohl die großen psychiatrischen Störungen als auch den BMI gemeinsam beeinflussen.

„Menschen mit bipolarer Störung und schwerer Depression scheinen ein genetisches Risiko für eine erhöhte Körpermasse zu haben, das zusammen mit der Ernährung, dem Lebensstil und der Medikation das erhöhte Gewicht vieler Patienten erklären kann“, schreiben die Erstautoren der Studie Dr. Shahram Bahrami und Dr. Nils Eiel Steen.

Daten von rund 1,4 Millionen Menschen analysiert

„Es berührt auch die grundsätzliche Frage, wie sehr unsere psychischen Funktionen und unser physischer Körper interagieren“, gibt Andreassen zu bedenken. Um diese Fragen zu beantworten, bewerteten die Forscher das Ausmaß der Überlappung zwischen den genetischen Merkmalen der wichtigsten psychiatrischen Störungen und des BMI, indem sie mögliche gemeinsame Genloci identifizierten. Das Hauptziel der Studie war, eine Liste der Genloci zu erstellen, die bei Adipositas und den wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen gemeinsam auftreten.

Die Untersucher analysierten GWAS-Daten von 1.380.284 Personen aus großen Studienkohorten auf der ganzen Welt. Darunter waren 82.315 Personen mit Schizophrenie, 51.710 mit bipolarer Störung und 480.359 mit schwerer Depression. Weitere 795.640 Patienten mit einer über den BMI ermittelten Adipositas wurden ebenfalls eingeschlossen.

Die Daten wurden zwischen August 2017 und Mai 2018 erhoben, und die Analyse begann im Juli 2018. Mit modernen statistischen Methoden wurden die genetischen Varianten, die mit erhöhtem Körpergewicht und schweren psychischen Störungen assoziiert waren, untersucht und verglichen.

Ausgedehnte genetische Überschneidungen

Die Forscher fanden umfangreiche genetische Überlappungen zwischen Adipositas und psychiatrischen Erkrankungen: 63 gemeinsame Loci für Adipositas und Schizophrenie, 17 für Adipositas und BAS und 32 für Adipositas und schwere Depression.

 
Wir können also aus der Studie folgern, dass ein erhöhtes Körpergewicht bei Schizophrenie hauptsächlich auf Ernährung, Lebensstil und Medikamentennebenwirkungen zurückzuführen sein könnte. Prof. Dr. Ole A. Andreassen
 

Von den gemeinsamen Loci wiesen 34% (73 von 213) bei Schizophrenie Risikoallele auf, die mit einem höheren BMI assoziiert waren. Im Vergleich dazu wiesen 52% der gemeinsamen Loci (36 von 69) bei BAS Risikoallele auf, die mit einem höheren BMI assoziiert waren, sowie 57% (56 von 99) bei der schweren Depression. Der Rest der gemeinsamen Loci hatte eine gegenläufige Assoziationsrichtung.

Funktionelle Analysen dieser Assoziationen zeigten, dass die überlappenden Loci u.a. an der neuronalen Entwicklung, der Neurotransmitter-vermittelten Signalübertragung und an intrazellulären Prozessen beteiligt sind.

Obwohl diese Befunde auf gemeinsame molekulare Mechanismen zwischen der Gewichtsregulation und psychischen Erkrankungen hindeuten, gab es auch einen auffälligen Unterschied zwischen den Störungen: Die genetischen Risikovarianten für schwere Depressionen und BAS waren in erster Linie mit einem erhöhten Gewicht assoziiert, während die meisten genetischen Varianten bei der Schizophrenie in Zusammenhang mit einem geringeren Gewicht standen.

„Wir können also aus der Studie folgern, dass ein erhöhtes Körpergewicht bei Schizophrenie hauptsächlich auf Ernährung, Lebensstil und Medikamentennebenwirkungen zurückzuführen sein könnte. Bei der bipolaren Störung und der Depression ergibt sich hingegen ein völlig anderes Bild“, sagt Andreassen.

Türöffner für die personalisierte Medizin?

Dr. Cynthia Bulik, Professorin für Psychiatrie an der Universität von North Carolina in Chapel Hill, USA, und nicht an der Studie beteiligt, zeigt sich gegenüber Medscape nicht besonders von den Ergebnissen überrascht: „Eines hat uns die Genforschung gelehrt – die Trennung zwischen ‚Kopf‘ und ‚Körper‘ ist sehr willkürlich.“

 
Eines hat uns die Genforschung gelehrt – die Trennung zwischen ‚Kopf‘ und ‚Körper‘ ist sehr willkürlich. Dr. Cynthia Bulik
 

„Diese Ergebnisse unterstreichen zusammen mit den epidemiologischen Daten, wie wichtig es ist, metabolische und auch psychiatrische Faktoren zu berücksichtigen, wenn es darum geht, psychische Erkrankungen zu verstehen und wirksam zu behandeln.“

„Nach diesen Resultaten muss auch nicht unbedingt eine genetische Veranlagung zur Adipositas bestehen, welche die schädliche Gewichtszunahme im Zusammenhang mit manchen Neuroleptika vorantreibt. Und sie zeigen, wie wichtig die Entwicklung von antipsychotisch wirksamen Medikamenten mit einem besseren kardiometabolischen Profil ist“, fügt Bulik hinzu.

Für Andreassen dienen die Ergebnisse als Basis für künftige experimentelle Studien, mit deren Hilfe die Mechanismen der Adipositasentstehung bei Patienten mit schweren psychiatrischen Störungen identifiziert werden könnten.

„Die Ergebnisse lassen auch Vorhersagen darüber möglich erscheinen, welche Therapie bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen aufgrund ihres metabolischen Risikos am geeignetsten wäre“, fügt er hinzu.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

 

Kommentar

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