Das neue Coronavirus (2019-nCoV) breitet sich rasant aus: Heute morgen berichtete die regierungseigene chinesische Global Times von 571 bestätigten Fällen, darunter 95 schwere Fälle und 17 Todesfälle. Einige Stunden zuvor waren es noch 471 bestätigte Fälle.
Obwohl die Zahl der Infektionen steigt, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entschieden, vorerst keine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ auszurufen. Gestern hatte der Notfallausschuss der WHO in Genf unter dem Vorsitz von Dr. Didier Houssin stundenlang darüber beraten und die Entscheidung auf heute verschoben.
Mit dem internationalen Gesundheitsnotstand verbinden sich schärfere Maßnahmen zur Bekämpfung einer Krankheit. „Die Entscheidung, ob ein internationaler Gesundheitsnotstand ausgerufen wird oder nicht, nehme ich sehr ernst“, sagte WHO-Direktor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus auf der WHO-Pressekonferenz gestern Abend. Es sei deutlich geworden, „dass wir mehr Informationen brauchen, um weiterzukommen“.
Eigenschaften des neuen Virus
Coronaviren verursachen harmlose Erkältungen aber auch gefährliche Erkrankungen wie SARS und MERS. 2019-nCoV wurde zuvor noch nicht in Menschen diagnostiziert. Zu den Symptomen zählen Fieber, Husten und Atemnot. Radiologisch zeigen sich typische Merkmale viraler Pneumonien mit beidseitigen Läsionen in den Lungenflügeln. Die Inkubationszeit liegt bei bis zu 14 Tagen. Seine Herkunft ist noch immer unbekannt. Vermutet wird ein Übersprung vom Tier auf den Menschen. Die Mehrzahl der Fälle steht in Verbindung mit dem Aufenthalt bzw. der Tätigkeit auf dem Fischmarkt in Wuhan, manche Fälle auch mit Besuchen eines anderen Lebensmittelmarktes.
Weitere Fälle weisen keine derartigen Verbindungen auf, aber Kontakt zu Personen mit respiratorischen Symptomen. Bislang sind der genaue Übertragungsweg und Risikofaktoren unbekannt. Es gibt erste Hinweise auf eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung. Es ist aber unklar, wie leicht diese möglich ist.
Beträchtliche Unsicherheit über Mortalität und Morbidität
„Die Entwicklungen der letzten Tage zeigen, dass das neuartige Coronavirus potenziell beeindruckende lokalisierte Ausbrüche verursacht. Eine weitere globale Verbreitung ist ebenfalls wahrscheinlich. Nach Einschätzung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) besteht eine moderate Wahrscheinlichkeit, dass importierte Fälle in der EU entdeckt werden. Die Wahrscheinlichkeit ist in den Ländern am höchsten, in denen die meisten Menschen nach und aus Wuhan reisen.
„Es besteht eine beträchtliche Unsicherheit über die Mortalität und Morbidität dieser Krankheit und es werden dringend mehr epidemiologische Daten benötigt, um ein besseres Verständnis über dieses Virus zu erhalten“, fasst Dr. Andrea Ammon, Direktorin des ECDC in einem Statement die neue, gestern veröffentlichte Risikobewertung des ECDC zusammen.
Die bestätigten Fälle von 2019-nCoV stehen überwiegend im Zusammenhang mit der 11-Millionen-Metropole Wuhan, in der die Krankheit Ende Dezember zum ersten Mal auf einem Fisch- und Geflügelmarkt aufgetreten war. Es wurden Fälle von Mensch-zu-Mensch-Übertragungen des Virus festgestellt, darunter auch Infektionen des medizinischen Personals, sagte Li Bin, der stellvertretende Leiter der Nationalen Gesundheitskommission, am Mittwoch während einer Pressekonferenz in Peking. Der Leiter des Zentrums für Krankheitsbekämpfung, Gao Fu, sagte in der gleichen Pressekonferenz, die Bekämpfung des Virus werde dadurch erschwert, dass es sich „anpasst und mutiert“.
Forscher am britischen Zentrum für die Analyse globaler Infektionskrankheiten am Imperial College London waren in ihrer Analyse am 17. Januar bereits davon ausgegangen, dass die Ausbreitung der Krankheit sehr viel größer ist als bisher bekannt: Sie hatten die Zahl der Infizierten in Wuhan auf mehr als 1.700 geschätzt.
Verkehrsverbindungen nach Wuhan gekappt
Der plötzliche Anstieg der bestätigten Fälle sei auf einen verbesserten und wirksamen Diagnose-Mechanismus zurückzuführen, sagte Li. Die Quelle der neuen Coronavirus-Infektion müsse noch ermittelt werden und der Übertragungsweg des Virus sei noch nicht vollständig geklärt, so der Beamte der Gesundheitskommission.
Der Gesundheitsausschuss kündigte verstärkte Vorsorgemaßnahmen während des dichten Reiseverkehrs an, darunter zusätzliche Desinfizierungen von Flughäfen und Bahnhöfen sowie in Einkaufszentren. Chinesische Behörden haben inzwischen entschieden, die Verkehrsverbindungen in und aus der Stadt Wuhan zu kappen. Staatliche Medien berichten, dass ab Donnerstagmorgen der Flughafen und Bahnhöfe gesperrt sowie Fährverbindungen ausgesetzt werden. Fast alle Einwohner Wuhans tragen Atemmasken.
Auch aus Südkorea, Japan, Macau, Hongkong und Thailand wurden einzelne Fälle gemeldet, in Australien gibt es einen Verdachtsfall. Am Sonntag trat 2019-nCoV erstmals in den USA auf: Nahe der Großstadt Seattle ist ein Mann in seinen 30ern ins Hospital in Everett eingeliefert worden. Er hatte die Gegend um Wuhan besucht und war am 15. Januar am Flughafen Seattle-Tacoma gelandet. Sein Zustand soll gut sein.
Bundesregierung und RKI sehen derzeit „eher geringes Risiko“
Das Bundesgesundheitsministerium und das für die Lagebewertung maßgebliche Robert Koch-Institut (RKI) aber sehen zumindest in Deutschland keinen Grund zur Panik.
Das Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung sei derzeit „eher gering“. Obwohl das Virus offenbar von Mensch zu Mensch übertragen werden könne und die Möglichkeit bestehe, dass Erkrankte nach Deutschland einreisen, sagt der Präsident des Robert Koch-Instituts, Prof. Dr. Lothar Wieler gegenüber der Tagesschau : „Allerdings ist die Übertragungsrate nicht kontinuierlich – nach dem jetzigen Wissensstand. Wir gehen also davon aus, dass nur wenige Menschen von anderen Menschen angesteckt werden können.“
Bisher haben sich offenbar hauptsächlich Personen infiziert, die direkteren, ungeschützten Kontakt mit Erkrankten hatten. Wieler ergänzt: „Die jetzige Risikobewertung zeigt, dass von den Menschen, die infiziert werden, nur wenige sehr stark krank werden – und auch nur ein kleiner Teil verstirbt. Darum ist die Virulenz oder das pathogene Potenzial dieses Virus nach dem heutigen Kenntnisstand insgesamt als klein einzuschätzen.“
Einzelfälle sind auch in Europa und Deutschland zu erwarten
„Die Informationen, die wir bisher haben, können durchaus dafür sprechen, dass eine bedrohliche Epidemie in China und angrenzenden Ländern auftritt. Bei SARS war es so, dass auch andere Länder, z.B. Kanada, stark betroffen waren. Es lässt sich noch keine Prognose abgeben, wie sich die Erkrankung weiter entwickeln wird. Die Höhe der Infektiosität kann noch nicht abgeschätzt werden“, erklärt Lungenfacharzt Dr. Norbert Vetter im Interview mit Puls 24 .
Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité Berlin hat den SARS-Erreger mitentdeckt und vor wenigen Tagen einen Test für das neue Coronavirus entwickelt. „Ich gehe davon aus, dass die breite Verfügbarkeit des Diagnostiktests nun in kurzer Zeit helfen wird, Verdachtsfälle zweifelsfrei aufzuklären und zu bestimmen, ob eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung des neuen Virus möglich ist“, so Drosten in einer Pressemitteilung der Charite. „Damit ist ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung des neuen Virus getan.“
Im Interview mit Spiegel online meint Drosten, dass sich aus den Erkrankungszahlen noch nicht ableiten lasse, inwiefern wir es mit einer Pandemie zu tun bekommen könnten. „In jedem Fall können wir uns aber schon einmal darauf einstellen, dass es auch Einzelfälle in Europa und Deutschland geben wird.“ Man solle die aktuellen Krankheitszahlen nicht unterschätzen, so Drosten: „Die Übertragung scheint erstaunlich schnell zu gehen. Auch die Mensch-zu-Mensch-Übertragung bereitet natürlich Sorge.“
Jetzt gehe es vorrangig darum, das Personal in den Kliniken zu informieren, betont die Leiterin der Infektiologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, Prof. Dr. Marylyn Addo, im Interview mit tagesschau24 . „Wir informieren unser medizinisches Personal, die Notaufnahmen bereiten sich vor, es gibt Falldefinitionen.“ Eine Diagnostik auf 2019-nCoV werde dann eingeleitet, wenn entweder direkt Kontakt zu einem Infizierten bestand oder wenn sich die Person in der Region in China aufgehalten hätte.
In jedem Fall können wir uns aber schon einmal darauf einstellen, dass es auch Einzelfälle in Europa und Deutschland geben wird.
Mit der gerade laufenden Reisewelle zum chinesischen Neujahrsfest am kommenden Samstag wächst die Gefahr einer Übertragung des Virus. Bei der größten jährlichen Völkerwanderung sind einige Hundert Millionen Chinesen unterwegs.
Sicherheit an den Flughäfen
An den Flughäfen in London, New York, Los Angeles, San Francisco, Atlanta und Chicago werden inzwischen Passagiere aus Wuhan auf erhöhte Temperatur gescreent. Deutschlands größter Flughafen in Frankfurt am Main sieht aktuell keine Notwendigkeit für Schutzmaßnahmen, zumal dort keine Direktflüge aus Wuhan landen. Der Flughafenbetreiber steht laut seiner Sprecherin aber „in einer engen Abstimmung mit den Behörden“ und im Austausch mit anderen Flughäfen.
Der Flughafenverband ADV hält die deutschen Flughäfen für gewappnet gegen das neuartige Coronavirus aus China. Die mögliche Einschleppungsgefahr werde durch die zuständigen Behörden „fortlaufend neu bewertet“, teilte der ADV am Mittwoch mit. Die Entwicklung und Verbreitung der Lungenkrankheit werde „mit höchster Aufmerksamkeit beobachtet“. Für den Ernstfall gebe es detaillierte Notfallpläne.
Entsprechend des internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO müssen 5 Flughäfen in Deutschland zum Schutz der öffentlichen Gesundheit sogenannte Kernkapazitäten vorhalten. Dies sind die Flughäfen in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt am Main, München und Berlin. Sollte sich an Bord eines Flugzeugs ein Verdachtsfall befinden, werde die Maschine zu einem der 5 Flughäfen umgeleitet. Dort sei bestimmtes medizinisches Personal vorhanden, um Betroffene schnell zu versorgen und zu separieren.
Verhalten bei Verdachtsfällen
Das RKI teilt mit, dass es sich bei dem neuartigen Coronavirus wie beim SARS-Virus (2003) um ein beta-Coronavirus handelt. Eine gezielte Diagnostik von Verdachtsfällen ist möglich.
Im Verdachtsfall empfiehlt das RKI das Tragen eines mehrlagigen Mund-Nasen-Schutzes, die Unterbringung in einem Einzelzimmer. Gegebenenfalls kommt auch eine Kohorten-Isolierung, die Verwendung von Schutzkleidung, Schutzbrille und Handschuhen neben der konsequenten Einhaltung der Basishygienemaßnahmen in Frage. Das RKI verweist dazu auf die Interim guidance der WHO vom Januar 2020.
Handelt es sich um einen wahrscheinlichen oder mittels Labordiagnostik bestätigen Fall greifen die RKI-Empfehlungen zu Hygienemaßnahmen und Infektionskontrolle bei SARS. Dazu gehört die Isolierung in einem Zimmer mit Vorraum/Schleusenfunktion und die Verwendung von mindestens FFP2-Masken als Atemschutz. Sofern in den Patientenräumen eine raumlufttechnische Anlage betrieben wird, über die eine Verbreitung von Luft auf andere Räume möglich ist, ist diese abzustellen.
2019-nCoV – eine Chronologie der Ausbreitung
Ende Dezember 2019 traten in Wuhan, einer chinesischen Stadt mit 11 Millionen Einwohnern, eine Reihe von Pneumonie-Fällen mit zunächst unklarer Ursache auf. Die Zahl der Infizierten schien zunächst bei 40 zu stagnieren. Nach Angaben der chinesischen Behörden standen diese in Zusammenhang mit dem dortigen Huanan Seafood Market, wo neben Fisch auch Geflügel und exotisches Fleisch verkauft worden war.
Am 9. Januar 2020 teilt die WHO mit, dass es sich um einen neuartigen Erreger aus der Familie der Coronaviren handelt – vorläufiger Name 2019-nCoV.
Am 11. Januar forderte die Erkrankung ein erstes Todesopfer: ein 61 Jahre alter Krebspatient. Er hatte den Fischmarkt in Wuhan besucht.
17. Januar: Nachdem ein weiterer Patient an 2019-nCoV gestorben war, wurden in den Flughäfen in New York, Los Angeles und San Francisco Fieberkontrollen eingeführt.
20. Januar: Die Zahl der Infizierten steigt sprunghaft auf mehr als 200 an. Auch 15 Krankenhausmitarbeiter sind unter den Infizierten, ein Indiz dafür, dass 2019-nCoV von Mensch zu Mensch übertragen werden kann.
In Südkorea wird 2019-nCov bei einer 35 Jahre alten Chinesin nachgewiesen, die aus Wuhan kommt. Die Patientin berichtete weder über den Besuch von Märkten, einschließlich des Huanan Seafood Wholesale Market, noch hatte sie Kontakt mit bestätigten 2019-nCoV-Fällen oder wilden Tieren in der Stadt Wuhan.
21. Januar: Die Zahl der Patienten steigt auf knapp 300, es wird von 6 Todesopfern berichtet.
22. Januar: Die chinesische Regierung beziffert die Zahl der Patienten auf 400, 9 Menschen sollen bislang gestorben sein. Im Lauf des Tages erhöht sich die Zahl auf 479 Fälle und 17 Todesopfer. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag steigt die Zahl der bestätigten Fälle auf 550. Die WHO vertagt nach ihrem Krisentreffen die Entscheidung über die Ausrufung des internationalen Gesundheitsnotfalls
23. Januar: Die Zahl der Patienten ist auf 571 gestiegen, darunter 95 schwere Fälle und 17 Todesfälle.
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Diesen Artikel so zitieren: Das neue Coronavirus breitet sich rasant aus und könnte nach Deutschland gelangen: Welche Maßnahmen das RKI Ärzten empfiehlt - Medscape - 23. Jan 2020.
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