Jede 10. werdende Mutter erkrankt an einem Gestations- oder Schwangerschaftsdiabetes – oft ohne Beschwerden. Typische Symptome wie ein Durstgefühl und Harnwegs- und Nierenentzündungen können, müssen aber keineswegs auftreten. Bekanntlich setzen Gynäkologen zur Diagnostik auf den oralen Glukosetoleranztest (oGTT). Nach dem Tod einer Mutter und ihres Kindes durch kontaminierte Glukose in Köln (wie Medscape berichtete) lehnen Patientinnen die Untersuchung teilweise ab.
Doch es gibt Alternativen: Nitzan Shalom Artzi vom Weizmann Institute of Science in Rehovot, Israel, hat zusammen mit Kollegen ein datengetriebenes Screening entwickelt. In elektronischen Gesundheitsakten von Schwangeren fanden die Forscher mit maschinellem Lernen Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Gestationsdiabetes, wie sie in Nature Medicine berichten [1]. Daraus leiteten sie 9 Fragen ab, um gefährdete Frauen zu erkennen.
„Das Besondere der Arbeit liegt darin, dass ausgehend von einer sehr großen Kohorte gesetzlich versicherter Schwangerer berechnet wurde, mit welchen Parametern sich die Gruppe mit erhöhtem Risiko für einen Schwangerschaftsdiabetes am besten eingrenzen lässt“, erklärt Prof. Dr. Christoph Bührer gegenüber dem Science Media Center Germany. Er ist Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité Berlin.
Bührer: „Viele der identifizierten Parameter mit hoher Vorhersagekraft beruhen auf vorangegangenen Laboruntersuchungen – etwa HbA1c, Cholesterin und Blutzuckerwerte in früheren Schwangerschaften – oder Diagnosen, die bei früheren Arztbesuchen gestellt wurden (polyzystisches Ovar-Syndrom, Prädiabetes, Herzerkrankungen).“ Demgegenüber hätten Alter, Gewicht, Größe und Diabetes bei Verwandten nur eine kleinere Rolle. gespielt.
Kohorte mit fast 600.000 Schwangerschaften
Basis der Kohorte waren 588.622 Schwangerschaften von 368.351 Frauen, die zwischen 2010 und 2017 entbunden haben. Als Prävalenz eines Gestationsdiabetes geben die Forscher 3,9% an. Dies sei anhand von Glukose-Suchtests (Glucose Challenge Test, GCT) und Glukosetoleranztests (oGTT) bestimmt worden.
Die Studienpopulation wurde in ein Trainingsset mit 451.402 Schwangerschaften und 3 Validierungssets aufgeteilt:
ein zeitliches Validierungsset mit 82.678 Schwangerschaften, die 2017 oder später enden,
ein geografisches Validierungsset mit 46.002 Schwangerschaften von Frauen, die in Jerusalem lebten, und
ein kombiniertes Validierungsset mit 8.540 Schwangerschaften, die beide Bedingungen erfüllen.
Wie beim maschinellen Lernen üblich, wird ein Algorithmus mit Trainingsdaten entwickelt und mit Validierungsdaten überprüft.
Doch wie lassen sich Risiken identifizieren? Im ersten Schritt arbeiteten die Forscher mit Risikofaktoren gemäß dem National Institute of Health (NIH). Zu ihrem Baseline Risk Score gehören:
Übergewicht der Mutter (Body-Mass-Index [BMI] vor der Schwangerschaft über 25 kg/m2),
familiäre Vorbelastung mit Diabetes mellitus,
Alter zu Beginn der Schwangerschaft mindestens 25 Jahre,
Komplikationen aus früheren Schwangerschaften (Gestationsdiabetes, Fehlgeburt oder Totgeburt),
Lebendgeburt mit einem Gewicht über 4 kg,
Polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS) bei der Mutter,
Stoffwechselstörungen (mindestens Prädiabetes) bei der Mutter,
Hypertonie, Hypercholesterinämie und/oder Herzerkrankungen.
Später kam ein erweiterter Satz mit 2.355 möglichen Risikoparametern zur Anwendung. Alle Ergebnisse der Tests wurden als Fläche unter der Grenzwertoptimierungskurve (area under the receiver operating characteristic, auROC) angegeben.
9 Fragen für die Praxis
„Unser erweitertes Modell prognostizierte einen Gestationsdiabetes bereits zu Beginn der Schwangerschaft (auROC = 0,85) und übertraf damit den Basisrisikoscore (auROC = 0,68) deutlich“, schreiben Artzi und seine Kollegen. „Wir haben unsere Ergebnisse sowohl beim zeitlichen Validierungssatz als auch beim geographischen Validierungssatz aus der bevölkerungsreichsten Stadt Israels, Jerusalem, getestet und damit die reale Situation abgebildet.“
Daraus entwickelten sie ein einfacheres Modell, das auf nur 9 Fragen basiert, die eine Patientin beantworten konnte. Dabei nahm die Genauigkeit nur geringfügig ab (auROC = 0,80). Die 9 Fragen lauten:
Ihr Geburtsdatum?
Ihr Gewicht und Ihre Größe bei Ihrer letzten Geburt?
Wie viele Verwandte 1. Grades haben Diabetes?
Hatten (oder haben) Sie...
einen hohen Cholesterinspiegel,
eine Fehlgeburt,
PCOS,
Prädiabetes,
eine Herzkrankheit,
einen Schwangerschaftsdiabetes,
einen hohen Blutdruck?
Falls bei Ihnen bereits HbA1c-Tests durchgeführt worden sind, was war der bisher höchste Wert?
Haben Sie schon einmal entbunden?
Falls ja: Wie oft haben Sie schon entbunden?
Wurden während Ihrer letzten Schwangerschaft GCT- oder oGTT-Tests durchgeführt?
Falls ja: Wie waren die Ergebnisse?
„Die Screeningparameter, die im sogenannten ‚einfachen Modell‘ angewandt werden und aus 9 Fragen bestehen, die ohne tiefergehende Untersuchung von den Frauen selbst zu beantworten sind, sind für ein Screening auch in Mitteleuropa sehr interessant“, kommentiert Prof. Dr. Andreas Fritsche vom Universitätsklinikum Tübingen.
„Allerdings ist wichtig zu betonen, dass das von den Autoren präsentierte und oben erwähnte einfache Modell vor allem darauf ausgelegt ist, das Nichtauftreten eines Schwangerschaftsdiabetes vorherzusagen“, ergänzt der Experte.
Man könne der Mutter das aufwändige Screening mit Glukosetrunk sowie die damit verbundene körperliche und psychische Belastung ersparen. Ebenso entfielen falsch positive Befunde des Screenings und damit unnötige therapeutische Maßnahmen wie Blutzuckermessen und Ernährungsumstellungen.
Methodische Einschränkungen der Studie
Das Modell hat mehrere Schwächen. Es basiert auf retrospektiv erhobenen Daten von Schwangeren, die untersucht worden sind. Interaktionen zwischen Patientinnen und Ärzten könnten beeinflusst haben, welche Tests durchgeführt worden sind.
Eine weitere Einschränkung ist, dass die Aufzeichnungen keine Informationen über die Lebensweise oder Ernährungsgewohnheiten, die bisher mit der Entwicklung eines Schwangerschaftsdiabetes in Verbindung gebracht werden, enthalten.
Außerdem wurden nur Daten auf Basis von Lebendgeburten erhoben. Die Inzidenz von Totgeburten ist in Israel – wie in allen westlichen Ländern – jedoch gering.
Und nicht zuletzt wird die Leistung der „9 Fragen“ beim Screening in der Praxis unterschiedlich ausfallen. Denn das Prinzip, Fragebögen selbst auszufüllen, führe immer zu einem Bias, schreiben die Forscher.
Medscape Nachrichten © 2020 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Nur 9 Fragen: So identifizieren Gynäkologen Frauen mit erhöhtem Risiko für einen Schwangerschaftsdiabetes - Medscape - 15. Jan 2020.
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