Berlin – Es ist die Gretchenfrage bei der Wiederernährung von untergewichtigen Patienten mit Anorexia nervosa: zunächst nur relativ wenig Kalorien pro Tag zuführen, um das gefürchtete Refeeding-Syndrom zu vermeiden, oder beherzt herangehen, damit die Patienten möglichst schnell Gewicht zulegen und aus der Gefahrenzone kommen?

Lange Zeit schien eher ein vorsichtiges Vorgehen zu dominieren. Doch bei einem Symposium zu Essstörungen auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin deutete einiges auf einen Paradigmenwechsel hin [1].

Angst vor dem Refeeding-Syndrom

Das Vorgehen bei der initialen Wiederernährung von Patienten mit Anorexia nervosa unterscheidet sich von Klinik zu Klinik. Und auch ein Blick auf die sehr unterschiedlichen internationalen Empfehlungen vermittelt den Eindruck: Nichts Genaues weiß man nicht. Wie Dr. Verena Haas von der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Berliner Charité darlegte, liegen diese zwischen initialen 200 und 1.600 kcal pro Tag bei einem 40 kg schweren Patienten.

Doch warum gibt es überhaupt Empfehlungen für einen niedrigkalorischen Einstieg? Sollte nicht viel auch viel helfen? Der Grund ist ein historischer: Bei stark unterernährten Kriegsgefangenen nach dem 2. Weltkrieg kam es mitunter bei hochkalorischer Wiederernährung zu plötzlichen Todesfällen. Eine klare Definition dieses „Refeeding-Syndroms“ gibt es bis heute nicht.

Es ist gekennzeichnet durch starke Schwankungen im Wasser- und Elektrolythaushalt (vor allem Hypophosphatämie) und eine Reihe metabolischer Entgleisungen: Der Körper schaltet durch eine hochkalorische Wiederernährung schnell vom katabolen auf anabolen Stoffwechsel. Dabei werden Elektrolyte in größeren Mengen aus dem extrazellulären Raum in die Zellen aufgenommen. In der Folge können dadurch Herz, Lunge, Nieren oder Leber versagen. Das höchste Risiko für das Refeeding-Syndrom besteht in den ersten 2 Wochen der Wiederernährung.

Vieles am Refeeding-Syndrom ist jedoch noch unklar, so die Prävalenzrate. Auch sind die Prädiktoren nicht bekannt. Wie Haas erläuterte, könnten eine Rolle spielen:

  • der BMI bei Aufnahme,

  • das Ausmaß des Gewichtsverlustes,

  • die initiale Kalorienaufnahme,

  • die Nahrungsaufnahme an den vorangegangenen Tagen,

  • und die Werte von Transaminasen und Phosphat.

Milde versus starke Mangelernährung

Wie nun vorgehen in Anbetracht des unklaren Risikos? Ein 2016 veröffentlichter US-amerikanischer Review von Studien zur Wiederernährung aus den Jahren 1960 bis 2015 kommt je nach Ausmaß der Mangelernährung zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen:

Bei milder bis moderater Mangelernährung (BMI noch über 15):

  • Niedrigkalorische Ernährung ist zu konservativ

  • Höhere Kalorienzufuhr (über 1.400 kcal/Tag) ist möglich – sowohl oral oder als Kombination aus oral und Sonde

  • Nicht mit einem erhöhten Risiko für ein Refeeding-Syndrom verbunden, wenn der Elektrolythaushalt engmaschig überwacht wird

Bei starker Mangelernährung (BMI unter 15):

  • Keine medizinische Evidenz, um Standardbehandlung (Start mit 1.200 kcal/Tag) zu ändern

  • Größere Vorsicht inklusive medizinischem Monitoring erforderlich

Sind mehr Kalorien trotzdem besser?

Doch die niedrigkalorische Ernährung – auch die deutsche Empfehlung von 1.200 kcal gehört dazu – birgt Nachteile. „Natürlich führt das konservative Vorgehen zu einer langsameren Gewichtszunahme, zu verlängerten Klinikaufenthalten und möglicherweise auch zu medizinischen Komplikationen“, gab Haas zu bedenken. So besteht das Risiko eines „Underfeeding-Syndrom“ (Knochenmarkdepression, Hepatopathie, Nierenfunktionsstörungen, eingeschränkte kardiovaskuläre Funktion).

In den letzten Jahren stieg denn auch die Anzahl der Studien zur Wiederernährung, die mit mindestens 1.400 kcal/Tag starteten. Zwischen 2010 und 2015 waren es bereits 85%, wie eine US-Studie aus 2017 konstatiert. Und in diesen Studien deutet sich ein Paradigmenwechsel hin zu einer höherkalorischen initialen Ernährung an. Haas nannte 3 Beispiele.

 
Natürlich führt das konservative Vorgehen zu einer langsamen Gewichtszunahme, zu verlängerten Klinikaufenthalten und möglicherweise auch zu medizinischen Komplikationen. Dr. Verena Haas
 

So gab es in einer US-Studie aus 2016 mit 129 Kindern und jungen Erwachsenen zwischen 10 und 22 Jahren und einem BMI von 11,9 bis 20,6, bei der die initiale Energiezufuhr bei mindestens 1.500 kcal/Tag gelegen hatte, keinen Fall eines Refeeding-Syndroms. Bei 77,5% der Patienten wurde Phosphat supplementiert.

In einer australischen Studie aus 2015 erhielten die Patienten sogar zu Beginn schon 2.400 kcal/Tag über eine Magen-Sonde und ebenfalls eine Phosphat-Supplementation. Bei keiner der Patienten trat ein Refeeding-Syndrom auf.

Und eine noch unveröffentlichte Studie der Berliner Charité, an der Haas beteiligt ist, startete mit 2.000 kcal pro Tag. Die 103 Patienten mit einem BMI unter 13 wurden mit Phosphat und Thiamin supplementiert. Auch in dieser Studie kam es zu keinem Refeeding-Syndrom oder einer kritischen Verschlechterung des körperlichen Zustandes. „Meines Wissens nach der einzige Datensatz, der auch einmal an einer deutschen Stichprobe gezeigt hat, dass ein höherkalorisches Vorgehen sicher ist“, betonte Haas.

Erfahrung des Behandlungsteams gefragt

Und wie kommt das Konzept eines höherkalorischen Einstiegs bei den Patienten an? „Generell ist die Akzeptanz der Gewichtszunahme und jeglicher Wiederernährung überhaupt nicht gut. Ob die Patienten 500 g pro Woche zunehmen sollen oder 1 kg – es ist immer zu viel“, schilderte sie Ihre Erfahrungen aus der klinischen Arbeit. „Ich bin der Meinung, dass wir die Aufgabe haben, für die Patienten die Entscheidung mitzutreffen und ein möglichst gutes Ernährungsregime vorzugeben. Das ist am hilfreichsten für die Patienten.“

 
Ich bin der Meinung, dass wir die Aufgabe haben, für die Patienten die Entscheidung mitzutreffen und ein möglichst gutes Ernährungsregime vorzugeben. Dr. Verena Haas
 

Die eigene Erfahrung eines Behandlungsteams ist auch gefragt, wenn es um die Auswahl der Nahrung geht: „Es gibt überhaupt keine Studien zur Nahrungszusammensetzung. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich also kein Vorteil von bestimmten Kombinationen belegen“, bedauert Haas.

 
Es gibt überhaupt keine Studien zur Nahrungszusammensetzung. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich also kein Vorteil von bestimmten Kombinationen belegen. Dr. Verena Haas
 

In Australien laufe gerade eine Studie, in der die Hypophosphatämie mit kohlenhydratarmer und fettreicher Ernährung per Sonde vermieden werden soll. „Dies scheint ganz gut zu funktionieren. Die Patienten brauchen keine Phosphat-Supplementierung, seit sie die fettreiche Nahrung erhalten.“

Trotzdem sieht Haas diesen Ansatz kritisch. „Aus Forschungssicht ist es ganz interessant. Praktisch denke ich, ist es für Patienten verwirrend, extreme Ernährungsformen bei der Wiederernährung zu wählen“, gibt die Ökotrophologin zu bedenken. „Der klinische Ansatz ist aus meiner Sicht eine vollwertige Ernährung, diese zu üben und sie dann auch zuhause fortzusetzen zu können.“
 

Kommentar

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