In den letzten Monaten wurden mehrere monoklonale Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bzw. gegen den CGRP-Rezeptor zugelassen. Doch jenseits klinischer Studien besteht Unsicherheit, wann die Biologicals verordnet werden dürfen – und wann die altbekannten Betablocker oder Antikonvulsiva einzusetzen sind.
Eine kürzlich veröffentlichte Ergänzung der S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ sorgt jetzt für mehr Klarheit [1,2]. Sie wurde von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) sowie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) veröffentlicht.

Prof. Dr. Hans-Christoph Diener
„In Deutschland leiden etwa 1,5% aller Menschen an chronischer Migräne“, sagt Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN, zu Medscape. Bei der Hälfte aller Patienten liege ein Übergebrauch von Pharmaka zur Akutmedikation vor. „Diese Population mit erheblichem Leidensdruck würde von den neuen Antikörpern profitieren, denn ein Vorteil der neuen Präparate ist, dass sie fast keine Nebenwirkungen haben.“
Starke Einschränkungen bei der Verordnung
Diener: „In der Praxis schränken uns Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses aber stark ein: Zuvor müssen 6 verschiedene Pharmakotherapien unwirksam gewesen ein. Erst dann dürfen Ärzte die Biologicals verordnen.“ Das sei hart für Patienten, die seit Jahren an chronischer Migräne litten und die Arzneistoffe erst bekämen, wenn alles andere gescheitert sei.
„Dass Vorgaben aus finanziellen Gründen erforderlich sind, kann man bei Jahrestherapiekosten über 8.000 Euro zwar nachvollziehen“, erklärt der DGN-Sprecher. „Allerdings gibt es für Patienten mit chronischer Migräne nur 2 zugelassene Therapien, nämlich Topiramat und Botulinumtoxin.“ In allen anderen Fällen fehle die Evidenz, dass Arzneistoffe überhaupt wirksam seien. Auch habe der G-BA nicht zwischen episodischer und chronischer Migräne unterschieden.
Diener zufolge gibt es noch weiteren Forschungsbedarf: „Wir wissen nicht, ob es Sinn macht, bei Therapieversagen einen weiteren Antikörper zu testen.“ Head-to-Head-Vergleiche verschiedener Biologicals seien nicht möglich, dazu gebe es keine Daten.
Patienten nicht zwangsläufig auf Antikörper umstellen
Seit 2018 wurden 3 monoklonale Antikörper zu Prophylaxe zugelassen. Erenumab (Aimovig®) richtet sich gegen den CGRP-Rezeptor. Fremanezumab (Ajovy®) und Galcanezumab (Emgality®) haben CGRP zum Ziel. Ein weiterer CGRP-Antikörper, Eptinezumab, befindet sich in der Pipeline.
„Viele Patienten sind gut mit den herkömmlichen Therapien einzustellen und erleiden unter der Medikation deutlich weniger Migränetage“, so Diener. „Es macht daher wenig Sinn, diese Patienten auf neue Präparate umzustellen, nur weil sie neu sind.“
Der Neurologe ergänzt: „Im Vergleich zu den herkömmlichen Therapieoptionen sind die Antikörper nicht wirksamer, verschaffen also prinzipiell nicht mehr anfallsfreie Tage als die herkömmlich eingesetzten Medikamente. Auch addieren sich die Wirkungen von verschiedenen Substanzklassen nicht auf.“ Außerdem spreche fast jeder 3. Migränepatienten nicht auf die Biologicals an.
Wer profitiert von den CGRP-Antikörpern?
Die CGRP-Antikörper können aber Lücken bei der Migräneprophylaxe schließen. Bekanntlich spielen Betablocker eine wichtige Rolle, eignen aber nicht bei Patienten mit Herzrhythmusstörungen oder Asthma bronchiale. Und Kalziumkanal-Blocker, eine weitere Wirkstoffgruppe, sollten während der Schwangerschaft bzw. bei Patienten mit Depressionen nicht verordnet werden. Antikonvulsiva sind wiederum bei Leberfunktionsstörungen oder Niereninsuffizienz kontraindiziert und Amitriptylin darf nicht bei Herzinsuffizienz, Glaukom oder benigner Prostatahyperplasie zum Einsatz kommen.
Sind etablierte Arzneistoffe nicht wirksam, werden nicht vertragen oder sind kontraindiziert, haben Neurologen also künftig mit den Antikörpern mehr Spielraum.
Alle bislang zugelassenen CGRP-Antikörper verringern bei episodischer Migräne die Schmerzepisoden um 2,9 bis 4,7 Tage pro Monat mehr als Placebo. Als 50%-Ansprechrate nennen die Leitlinienautoren nach 3 bis 6 Monaten 30 bis 62% (Placebo: 17 bis 38%).
Leiden Patienten an chronischer Migräne, führen die Antikörper je nach Molekül zu 4,3 bis 6,6 weniger Schmerztagen als Placebo. Die 50%-Ansprechrate schwankte je nach Antikörper zwischen 27 und 57% (Placebo: 15 bis 40%).
Wie lange sollten die Antikörper eingesetzt werden?
Fast alle Studien zur Wirksamkeit monoklonaler Antikörper in der Migräneprophylaxe liefen 3 Monate lang. In seltenen Fällen wurde die Anwendung 6 Monate lang untersucht. Die Leitlinienautoren raten deshalb, Biologicals zu Beginn der Therapie zunächst nur 3 Monate einzusetzen und ihre Behandlung dann zu evaluieren.
Als Therapieerfolg definieren sie eine Verringerung der Kopfschmerztage pro Monat um durchschnittlich 50% oder mehr. Ihre Beschwerden sollten Patienten mit einem Kopfschmerz-Tagebuch erfassen. Alternativ dazu kann eine Reduzierung des Migraine Disability Assessment Score (MIDAS) um 30% oder eine Reduzierung des Scores beim 6-Punkte-Headache-Impact-Test (HIT-6) um mindestens 5 Punkte als Kriterium herangezogen werden.
Stellen sich keine ausreichenden Effekte ein, lohnt es sich nicht, Antikörper weiter einzusetzen. Selbst beim Ansprechen macht eine Unterbrechung nach 9-12 Monaten dennoch Sinn, um zu klären, ob die Antikörper überhaupt noch erforderlich sind. Beispielsweis litten Patienten in der EVOLVE-Studie 4,5 bis 5 Tage pro Monat weniger an Migräne. 4 Monate nach Absetzen verschlechterten sich der Wert wieder, blieb aber mit 3,5-4,1 Tage unter dem Baseline-Wert.
Komorbiditäten beachten
Laut Zulassungsstudien führen CGRP-Antikörper größtenteils zu milden Nebenwirkungen, was zur Akzeptanz dieser neuen Wirkstoffklasse beitragen könnte. Als häufigste Nebenwirkung kam es zu Nasopharyngitis und Infektionen der oberen Atemwege – aber auf einem ähnlichen Level wie bei Placebo. Anaphylaxien sind selten. Auf Obstipationen sollten Ärzte ebenfalls achten. Hinzu kommen lokale Reaktionen an der Injektionsstelle.
„Es muss festgehalten werden, dass in den Studien vor allem ansonsten gesunde Migränepatienten behandelt wurden“, schreiben die Leitlinienautoren. „Es gibt kaum Vorerfahrungen bei Patienten mit zusätzlichen anderen Erkrankungen und das beobachtete Nebenwirkungsspektrum bezieht sich also im Wesentlichen auf ansonsten gesunde Migränepatienten.“
Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Autoimmunerkrankungen sollten die Biologicals nicht erhalten. Und bei Kindern bzw. Jugendlichen fehlen Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit. Nicht zuletzt raten die Experten davon ab, Schwangeren, Stillenden und Frauen ohne ausreichende Kontrazeption Antikörper zu verabreichen.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: CGRP-Antikörper bei Migräne – wann und für wen? Leitlinien-Update schafft Klarheit - Medscape - 23. Dez 2019.
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