Teufelskreis: Ärztliche Depressionen führen zu Kunstfehlern – oder auch umgekehrt

Pauline Anderson

Interessenkonflikte

17. Dezember 2019

Nach den Ergebnissen eines systematischen Reviews und einer Metaanalyse berichten Ärzte mit depressiven Symptomen fast doppelt so oft von Diagnose- oder Behandlungsfehlern wie Ärzte ohne Depressionen. Die Analyse zeigt auch, dass Ärzte, die derartige Fehler gemacht haben, danach um 67% häufiger über depressive Symptome klagen. Der Review ist in JAMA Network Open online veröffentlicht worden [1].

Dr. Michael F. Myers, Professor für klinische Psychiatrie an der Abteilung für Psychiatrie und Verhaltensforschung des SUNY Downstate Medical Center in New York und Spezialist für Ärztegesundheit, bezeichnet die Studie als „erstklassige Forschungsarbeit“. Sie bestätige, was Experten wie er „schon seit langem“ im ärztlichen Berufsalltag beobachteten, sagt Myers.

Auswirkungen auf die Qualität der Versorgung

Die an der Studie beteiligte Ärztin Dr. Karina Pereira-Lima von der Universität von Sao Paulo in Brasilien kommentiert gegenüber Medscape: „Wenn man bedenkt, dass Depressionen vermeid- und behandelbar sind, und ärztliche Fehler im Gesundheitssystem jährlich Millionenkosten verursachen, unterstreichen die Ergebnisse, dass es nicht nur um die Förderung des ärztlichen Wohlbefindens geht, sondern auch um die Patienten – und auch um die Kosten“, sagt sie.

Depressionen sind unter Ärzten weit verbreitet und wurden schon früher mit einem erhöhten Risiko für Arztfehler in Verbindung gebracht, so die Untersucher. Sie ergänzen aber, dass Ausmaß und die genauen Zusammenhänge bislang eher unklar sind. Anders gesagt: Steigern Depressionen bei Ärzten das Gefühl, Fehler zu begehen? Oder machen sie Fehler – und dadurch entstehen Depressionen?

Daten von über 21.000 Ärzten analysiert

Die Forscher haben Daten aus 11 Studien (7 Längs- und 4 Querschnittsstudien) analysiert, an denen insgesamt 21.517 Ärzte beteiligt waren. 9 Studien fanden in den USA statt, je eine in Japan und Südkorea.

In 8 der Studien waren die Teilnehmer Ärzte in der Weiterbildung. In den übrigen 3 waren Ärzte jeder Qualifikationsstufe beteiligt. 7 Studien umfassten Ärzte verschiedener Fachrichtungen, in 4 stammten die teilnehmenden Ärzte aus einem Fachgebiet stammten (1-mal Pädiatrie: 1-mal Anästhesie; 2-mal Innere Medizin).

In 8 Studien wurde nach „schweren Kunstfehlern“ aus den letzten 3 Monaten gefragt, in 2 ging es um das vergangene Jahr und bei einer um den zurückliegenden Monat. Als „schwerer Kunstfehler“ wurde dabei eingestuft, wenn der Fehler Konsequenzen für Patienten oder das Gesundheitssystem hatte.

Deutlicher Zusammenhang zwischen Depression und ärztlichen Fehlern

Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass es einen „sehr engen Zusammenhang“ zwischen der eigenen Wahrnehmung und der objektiven Bewertung der Arztfehler gebe, so Pereira-Lima.

Das gepoolte relative Risiko (RR) von Diagnose- oder Behandlungsfehlern bei Ärzten mit depressiven Symptomen betrug 1,95 (95%-Konfidenzintervall: 1,63–2,33). Dabei war das Ausmaß der Assoziation insgesamt in allen Studien mit Fach- und Assistenzärzten konsistent.

„Dies heißt für uns, dass depressive Symptome die Qualität der ärztlichen Tätigkeit beeinträchtigen können, und zwar unabhängig davon, auf welchem fachlichen Niveau sich der Arzt befindet“, sagt Pereira-Lima. Jedoch hätten die meisten Studien Assistenzärzte umfasst, so dass die Evidenz für Fachärzte nicht so gut sei.

 
Dies heißt für uns, dass depressive Symptome die Qualität der ärztlichen Tätigkeit beeinträchtigen können, und zwar unabhängig davon, auf welchem fachlichen Niveau sich der Arzt befindet. Dr. Karina Pereira-Lima
 

Die Assoziation war in den Querschnittsstudien mit einem RR von 2,51 (95%-KI: 2,20-2,83) signifikant höher als in den Längsschnittstudien mit einem RR von 1,62 (95%-KI: 1,43-1,84) – und schien dabei bidirektional zu sein. Auch waren Arztfehler mit künftigen depressiven Symptomen korreliert (RR: 1,67; 95%-KI: 1,48–1,87).

Pereira-Lima betonte, dass hier erstmals systematisch geprüft worden sei, in welcher Richtung es den Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen bei Ärzten und Behandlungsfehlern gebe.

Die US-Studien kamen zu höheren Werten für den Zusammenhang zwischen Depressionen und Arztfehlern als die beiden nicht amerikanischen Studien (2,1 statt 1,39). Doch müsse „dieser Punkt in anderen Kulturen definitiv eingehender untersucht werden, bevor daraus Schlussfolgerungen gezogen werden können“, meint Pereira-Lima.

Die Gesamt-RR-Werte waren in den Studien, die zur Beurteilung depressiver Symptome die HANDS (Harvard National Depression Screening Day Scale) oder PRIME-MD-2 (Primary Care Evaluation of Mental Disorders) genutzt hatten, signifikant höher als in den Untersuchungen, in denen das PHQ-9 (Patient Health Questionnaire) verwendet worden war.

Unterschiede zwischen den Fachgebieten?

In Studien, die nur chirurgische Fachgebiete umfassten, war der Gesamt-RR-Wert im Übrigen signifikant höher als bei Untersuchungen, die auch nicht chirurgische Behandlungsgebiete umfassten, nämlich 2,59 (95% KI: 2,10–3,16] gegenüber 1,79 (95% KI: 1,46–3,16).

Dies könne bedeuten, sagt Pereira-Lima, dass einige Fachgebiete anfälliger für ärztliche Diagnose- oder Behandlungsfehler seien oder manche Fehler „eindrücklicher“ seien. Allerdings hatte nur eine einzige Studie allein Ärzte chirurgischer Fachgebiete untersucht. Dies erfordere dementsprechend weitere Untersuchungen, fügt sie hinzu.

 
Die entsprechenden Institutionen sollten systemische Veränderungen vornehmen, um Fehler zu vermeiden und das Wohlbefinden der Ärzte zu schützen. Dr. Karina Pereira-Lima
 

Die Studie unterstreiche den Bedarf an Maßnahmen, durch die sich das Arbeitsumfeld von Ärztinnen und Ärzten verbessern lasse, sagt Pereira-Lima. „Die entsprechenden Institutionen sollten systemische Veränderungen vornehmen, um Fehler zu vermeiden und das Wohlbefinden der Ärzte zu schützen.“

Konsequenzen für den ärztlichen Alltag

Myers betont, die neuen Erkenntnisse seien vor allem auch für die Beratung von Ärzten wichtig. Er weise depressive Ärzte oft darauf hin, dass sie mit ihrer Krankheit genug zu tun hätten und „dazu nicht noch die Beschäftigung mit eigenen Kunstfehlern gebrauchen können“.

„Das macht es mir etwas leichter, meine Ratschläge zu begründen, ein oder zwei Wochen auf den Patientenkontakt zu verzichten und zumindest vorübergehend die klinische Arbeit einzuschränken und sich z.B. mehr um eigene Forschungen oder Schreibarbeiten zu kümmern“, sagt Myers.

Er betont, dass Depressionen die Gedächtnisleistung und die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen können, was sich negativ auf die ärztliche Tätigkeit auswirke. Allerdings betonte Myers auch, dass die Wahrnehmung der Kunstfehler in der aktuellen Analyse „subjektiv“ gewesen war – und mithin nicht unbedingt so gravierend sein müsse, wie der Betroffene selbst es sehe. Allerdings müsse man sich diesem Thema – dem Arzt, der das Gefühl hat, einen Fehler begangen zu haben oder einen begehen zu können – noch eingehender widmen.

Ärzte, die Fehler gemacht haben, brauchen Unterstützung. „Auch wenn nach dem alten Sprichwort Irren menschlich ist, kann es verheerende Folgen haben“, betont Myers.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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