Berlin – Medikamente, mit denen sich nicht nur die Depression als potenziell tödliche Erkrankung therapieren lässt, sondern die gleichzeitig den Beginn einer Demenz verzögern können – das wäre perfekt! Doch was, wenn diese Medikamente andererseits Osteoporose, sexuelle Dysfunktionen und die Progredienz von Krebserkrankungen fördern? All diese Möglichkeiten – die guten wie die schlechten – stehen für Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) im Raum.
Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wurden sie beim Symposium „SSRI – Freund oder Feind?“ vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse diskutiert [1].
SSRI als Demenz-Verzögerer?
Dr. Claudia Bartels von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen erinnerte zunächst daran, dass SSRI bei der Therapie von Depressionen einige Vorteile haben. So ist die Wirksamkeit auch für ältere Patienten belegt, sie sind gut verträglich, das Nebenwirkungsprofil ist gering und sie eignen sich für die Langzeiteinnahme.
Die Psychotherapeutin wies zudem darauf hin, dass eine Depression, insbesondere wenn sie später im Leben auftritt, ein Risikofaktor für eine Demenz ist (Hazard Ratio für Demenz in der mittleren bis späten Lebensphase 1,77). Da liegt die Idee nahe, durch die konsequente Behandlung einer Depression das Demenz-Risiko reduzieren zu können.
An Mäusen und Menschen konnten Forscher nachweisen, dass unter SSRI der Gehalt an Beta-Amyloid-Plaques, den typischen Ablagerungen bei Alzheimer Demenz, geringer ist, bzw. sich in Mäusen durch SSRI reduzieren lässt. Insgesamt gebe es bereits diverse positive tierexperimentelle und präklinische Studien, so Bartels.
Die Ergebnisse von epidemiologischen und Registerstudien zum Einfluss von SSRI auf Demenz sind dagegen uneinheitlich. Bartels listete 2 Studien mit negativem Effekt, 3 ohne bzw. mit unklarem Effekt sowie 5 mit positivem Effekt auf.
Und eine Metaanalyse über 12 klinische Studien mit rund 1.200 Patienten kommt zu dem Schluss, dass SSRI weder einen positiven noch negativen Effekt auf die Progression einer Demenz haben.
Zu den uneinheitlichen Ergebnissen bei den klinischen und Registerstudien merkte Bartels an, dass es sich überwiegend um kleine Stichproben gehandelt hatte, wenig prospektive Studien darunter waren, die Behandlung erst nach Diagnose einer Demenz begann, nur wenige Wochen behandelt wurde und lediglich der Mini-Mental-Status-Test (MMST) als kognitiver Outcome gemessen wurde.
Bartels selbst und ihre Kollegen haben im letzten Jahr eine Studie mit rund 800 Patienten zum Einfluss von SSRI auf das Fortschreiten einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment, MCI) zu einer Alzheimer-Demenz bei Patienten mit einer zurückliegenden Depression veröffentlicht.
Darin kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die Einnahme von SSRI über mehr als 4 Jahre die Progression zur Alzheimer-Demenz signifikant um ungefähr 3 Jahre verzögern kann – dies im Vergleich zu Patienten mit einer kürzeren Einnahme von SSRI, Behandlung mit anderen Antidepressiva oder MCI-Patienten ohne vorangegangene Depression.
Bartels Fazit zum bisherigen Forschungsstand: „Für den Bereich der Demenz sieht es eher so aus, als könnten SSRI ein ‚Freund‘ sein.“
SSRI und sexuelle Dysfunktion
Deutlich weniger erfreulich sind dagegen die Effekte von SSRI, von denen Prof. Dr. Tillmann H. C. Krüger von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover berichtete.
Laut einer von ihm zitierten Metaanalyse treten unter einigen SSRI bei bis zu 80% der Patienten sexuelle Dysfunktionen auf, etwa unter Sertralin. Möglich sind dabei fast alle Formen, etwa Libidoverlust, geringere Ansprechbarkeit auf sexuelle Stimuli oder verringerte Intensität des sexuellen Erlebens.
Zudem gäbe es offenbar einen Zusammenhang zu einer überwiegend bei Frauen auftretenden Störung, der Persistant Genital Arousal Disorder (PGAD). Die Patientinnen leiden unter einer andauernden unerwünschten genitalen Erregung ohne dabei auch emotional erregt zu sein. Nach seiner klinischen Erfahrung, so Krüger, berichten etwa 20% dieser Patienten SSRI eingenommen zu haben.
Das Fatale an den sexuellen Störungen: Die Probleme halten mitunter auch nach Absetzen der Medikamente an. Die zugrundeliegende Pathogenese dieses möglichen neuen Medikamenten-induzierten Störungsbildes, der Post-SSRI Sexual Dysfunction (PSSD), ist noch kaum verstanden.
Mittlerweile ist jedoch auch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) alarmiert. Seit September 2018 läuft ein europäisches Risikobewertungsverfahren. Zulassungsinhaber müssen demnächst Warnhinweise in die Produktinformation von SSRI und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) aufnehmen. Konkret betrifft das Medikamente mit diesen Wirkstoffen:
SSRI: Citalopram, Escitalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin
SNRI: Duloxetin, Venlafaxin, Desvenlafaxin, Milnacipran
Patienten sollten über die möglichen sexuellen Dysfunktionen, die auch über die Behandlungszeit hinaus anhalten könnten, aufgeklärt werden, betonte Krüger. Angesichts der deutlichen Hinweise für eine andauernde sexuelle Beeinträchtigung bezeichnete Krüger in seinem Resümee SSRI als „einen Freund mit Launen“.
SSRI und Osteoporose
Depressionen haben nicht nur negative Effekte auf die Psyche. Auch das Skelettsystem wird in Mitleidenschaft gezogen, wie Prof. Dr. Ulrich Schweiger, Stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck, konstatierte.
In einer Metaanalyse kamen er und seine Kollegen 2016 zu dem Schluss, dass Depressionen einen negativen Effekt auf die Knochendichte haben. „Er entspricht insgesamt einer Voralterung des Skelettsystems bei Patienten mit Depression von 5 bis 10 Jahren. Das ist ein hochrelevantes Phänomen. Wir können das noch nicht vollständig erklären.“
Da wäre es natürlich wünschenswert, wenn SSRI einen positiven Effekt auf die Knochendichte hätten, doch es könnte sogar das Gegenteil der Fall sein.
Tierexperimentelle Untersuchungen haben zwar kurzfristig anti-resorptive Effekte durch Fluoxetin festgestellt, da es die Differenzierung der Osteoklasten behindert. Langfristig jedoch steigt der Sympathikus-Tonus, der die Knochenresorption steigert. „Unterm Strich ergibt das einen vermehrten Knochenverlust“, fasste Schweiger zusammen.
Zum Thema SSRI und Knochendichte gibt es insgesamt nur extrem wenige Studien. Zusammenfassend lässt sich bisher sagen, dass SSRI keine signifikanten Effekte auf die Knochendichte zu haben scheinen. Schweiger gab jedoch zu bedenken, dass die Studien überwiegend von schlechter methodischer Qualität waren. So sei meist nicht erfasst worden, wie viel SSRI eingenommen worden waren und über welchen Zeitraum.
Dennoch keine Entwarnung: Eine große dänische Registerstudie aus diesem Jahr an Patienten ab 65 Jahren kam zu dem Schluss, dass im Untersuchungszeitraum 2006 bis 2016 bei Patienten mit Hüftfraktur die Prävalenz für SSRI-Einnahme höher war als in der Allgemeinbevölkerung (23% vs 12%). „Es gibt einen Zusammenhang zwischen SSRI und Fraktur-Risiko“, so Schweigers Schlußfolgerung.
SSRI – „Brandbeschleuniger“ bei Tumoren?
Die möglichen Auswirkungen von SSRI auf das Krebswachstum erläuterte Prof. Dr. Kai G. Kahl, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover.
Er wies darauf hin, dass etwa ein Drittel der Tumorpatienten auch eine affektive Erkrankung haben, meist eine Depression (15 bis 25%) oder eine Angsterkrankung. Laut Leitlinie können dann auch bei Tumorpatienten Antidepressiva, insbesondere SSRI, zum Einsatz kommen.
Doch wie wirken sich diese auf die Tumorerkrankung aus? Rezeptoren für Serotonin sind weit verbreitet. Auch Tumorzellen haben diese Rezeptoren. Es gibt Hinweise, dass die Glukose-Aufnahme der Zellen durch SSRI dosisabhängig gesteigert wird, v.a. durch Fluoxetin. Dies würde eine verbesserte Stoffwechselaktivität und im Kontext eines Tumors möglicherweise rascheres Wachstum oder erhöhte Rezidiv-Häufigkeit bedeuten, wie Kahl erläuterte.
Er und seine Kollegen haben deshalb Studien auf dahin gehende Hinweise untersucht. Sie beschränkten sich auf Untersuchungen zu Ovarial- und Mammakarzinomen, weil dies die Tumoren sind, die am häufigsten mit Depressionen verbunden sind und folglich diese Patientinnen häufiger mit SSRI behandelt werden.
„2 Reviews haben uns aufschrecken lassen“, berichtete Kahl. In einer Studie aus 2016 war bei Patientinnen mit Ovarial-Karzinom, die mit SSRI behandelt wurden, die Zeit bis zur Tumorprogression signifikant verkürzt.
Und in einer Studie aus 2018 an Patientinnen mit Mamma-Karzinom war die Einnahme von SSRI mit einer rund 30%igen Erhöhung der Mortalität an Brustkrebs assoziiert.
Aufgrund der Befunde zu verbesserten Glukoseaufnehme unter SSRI haben Kahl und seine Kollegen in einer noch unveröffentlichten Studie selbst untersucht, ob SSRI in hochmalignen Ovarial- und Mamma-Karzinom-Zelllinien die Zellteilungsrate erhöhen. Dazu verwendeten sie die häufig verordneten SSRI Fluoxetin, Citalopram und Sertralin. Sie fanden keinen relevanten Einfluss auf die mitotische Aktivität.
Kahl räumte jedoch ein, dass sie lediglich Zelllinien, aber kein Tumorgewebe untersucht hatten, in dem neben den Krebszellen selbst auch etwa Stromazellen und weitere Einflussfaktoren vorhanden sind. Noch aussagekräftiger sei der Tierversuch.
„Unser Test ist sozusagen nur der zweithärteste. Aber wir sehen – und das ist die gute Nachricht des Tages – gegenwärtig keinen Zusammenhang zwischen mitotischer Aktivität und SSRI-Stimulation bei unterschiedlichen Mamma- und Ovarial-Karzinom-Zelllinien.“
„In Hinblick auf die Metaanalyse, bei der sich das Überleben von Ovarial-Karzinom-Patientinnen unter SSRI verkürzte, müssen wir uns trotzdem die Frage stellen: Wie kommt’s?“, betonte Kahl. Seine Hypothese: Es ist nicht der SSRI-Einfluss, sondern es sind eher Faktoren, die mit der psychischen Grunderkrankung zusammenhängen. Es gebe zahlreiche Befunde, die zeigten, dass die Therapieadhärenz selbst bei so lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Tumoren bei Depressionen verschlechtert ist und es gebe noch mehr Befunde zum Einfluss von Lebensstilfaktoren.
„Patienten mit Depression rauchen beispielsweise häufiger, ernähren sich nicht so gut, bewegen sich weniger – das könnte in der Summe dazu führen, dass der Eindruck entsteht, dass die mit SSRI Behandelten früher sterben. In Wirklichkeit sind es aber konfundierende Faktoren, die dazu führen.“
Auf Nachfrage aus dem Auditorium zu den Konsequenzen der bisherigen Befunde sagte Kahl: „Auch bei Krebs mit SSRI weiter zu behandeln, ist eine gute Option, denn die Patienten sind eher dadurch gefährdet, dass die Depression wieder auftritt.“
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Janusköpfige SSRI: Gehören sexuelle Dysfunktion, Osteoporose und Krebs zur dunklen Seite der Stimmungsaufheller? - Medscape - 13. Dez 2019.
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