Heike Dierbach

Interessenkonflikte

11. Dezember 2019

Berlin – Welche Faktoren verhindern eine seelische Erkrankung – auch bei starken äußeren Belastungen? Wie lassen sie sich präventiv fördern und therapeutisch nutzbar machen?

Mit diesen Fragen befasste sich das Symposium „Risiko- und Schutzfaktoren für psychische Erkrankungen, Resilienz“ auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin [1]. Die Bandbreite der vorgetragenen Aspekte war dabei sehr groß – was aber beim Publikum gut ankam.

Kinder psychisch kranker Eltern stärken

Prof. Dr. Michael Franz stellte die Evaluation eines Coachings zur Stärkung der Resilienz von Jugendlichen mit psychisch erkrankten Eltern vor. „Das ist die Risikogruppe schlechthin für eine eigene psychische Erkrankung“, sagte der ärztliche Direktor des Vitos Klinikums Gießen-Marburg.

Zum einen haben diese Jugendlichen ein genetisch erhöhtes Risiko. Bei einer elterlichen Depression etwa entwickeln die Kinder später zu 25% selbst eine Depression, zu 57% irgendeine psychiatrische Erkrankung.

Zum anderen wachsen die Jugendlichen mit erheblichen seelischen Belastungen auf: Das Elternteil fällt durch die Krankheit oft in seiner Funktion aus, die Jugendlichen machen sich Sorgen, leiden unter Scham, Schuldgefühlen und Ängsten und übernehmen sehr oft selbst die Rolle der Fürsorglichen („parentifizierung“).

Das kann kaum ohne Folgen bleiben. „Viele Jugendliche weisen bei der klinischen Aufnahme ihrer Eltern ähnlich viele Symptome auf wie andere Jugendliche bei der Aufnahme in die Kinder- und Jugendlichen-Psychiatrie.“

In Schweden haben daher alle Erwachsenenpsychiatrien auch Ansprechpartner für die Kinder der Patienten. „Auch bei uns muss etwas geschehen“, forderte Franz.

Er hat mit seinen Mitarbeitern das Coaching „Your Coach“ für 12- bis 24-Jährige entwickelt, das auf dem Konzept der Salutogenese aufbaut. Danach kann der Mensch Belastungen durchaus bewältigen, wenn er ihnen unter anderem eine Bedeutung zuweisen und sie strukturieren kann.

 
Jugendliche mit psychisch erkrankten Eltern: Das ist die Risikogruppe schlechthin für eine eigene psychische Erkrankung. Prof. Dr. Michael Franz
 

Das Coaching wurde bewusst überschaubar gehalten, damit es leicht zu organisieren und durchzuführen ist. Und es wurde bewusst als Einzeltraining nur für den/die Jugendliche gestaltet. „Viele haben es als extrem entlastend empfunden, dass es einmal nur um sie ging“, berichtete Franz.

Die Studie schloss 92 Jugendliche ein, das Durchschnittsalter lag bei 15 Jahren. Die Hälfte nahm an dem Coaching teil, die Hälfte erhielt als Kontrollgruppe keine spezielle Unterstützung.

Das Coaching besteht aus 8 Sitzungen. Zu Beginn gibt es 2 Treffen mit der ganzen Familie, danach folgen 5 Module nur für die Jugendlichen. Sie erhalten Informationen zur Krankheit und zur eigentlichen (gesunden) Aufgabenverteilung in einer Familie.

Im Modul 3 verfassen sie dann ein Plädoyer für sich selbst. Leitfragen sind unter anderem: Welche Aufgaben muss ich wirklich übernehmen? Und was wird mir zu viel? „Es war beeindruckend zu sehen, wie differenziert die Jugendlichen hier ihre Situation gesehen haben“, sagte Franz, „wie sie versucht haben, die Wertschätzung für ihre Eltern und ihre eigenen Bedürfnisse auszubalancieren.“

Die Wirkung des Coachings hielt auch nach 6 Monaten noch an

In einer weiteren Sitzung geht es darum, sich Ressourcen bewusst zu machen und auch für Krisen zu wappnen: Wen kann ich anrufen, wenn es Mama wieder schlecht geht? Wo liegt mein Schlafanzug? Um was muss ich mich dann aber auch nicht kümmern?

Das Programm endet mit einem Resümee und einer abschließenden Familiensitzung, nach einiger Zeit gibt es noch eine „Booster-Sitzung“ zum Auffrischen.

 
Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche vor der Manifestation einer psychischen Erkrankung hoch wirksam präventiv unterstützt werden können. Prof. Dr. Michael Franz
 

Die Wirkung des Programms prüften die Behandler unter anderem mit dem „Youth Self Report“-Fragebogen. Zu Beginn der Studie lagen beide Gruppen bei einem Mittelwert von rund 17. Am Ende zeigten sich deutliche Unterschiede: Die Interventionsgruppe lag bei einem Wert unter 10, die Kontrollgruppe bei knapp 15. Der Unterschied vergrößerte sich noch zum Follow-up nach 6 Monaten: Hier war der Belastungswert bei der Kontrollgruppe fast wieder auf den Ausgangswert gestiegen, bei der Coaching-Gruppe hingegen auf demselben niedrigeren Niveau geblieben.

„Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche vor der Manifestation einer psychischen Erkrankung hoch wirksam präventiv unterstützt werden können“, sagte Franz. Das Programm sei gut angenommen worden, obwohl diese Gruppe als schwer zu erreichen gilt.

Auf die Frage aus dem Publikum, ob man derartige Angebote nicht verstetigen müsste, machte er anderen Institutionen Mut: „Das Programm kann im Grunde jeder durchführen.“

„Von guten Mächten wunderbar geborgen“: Religion als Resilienzfaktor

Inwiefern Glaube und Religion die Resilienz fördern, erläuterte Dr. Anne-Katharina Neddens, Oberärztin für Innere und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Klinik Hohe Mark in Oberursel. Sie zeigte dazu das Genogramm einer Patientin mit schädlichem Substanzgebrauch. Viele ihrer Vorfahren waren ebenfalls betroffen und auch eine Tochter schon.

 
Man kann versuchen, diesen Resilienzfaktor (den Glauben) innerhalb der Therapie verfügbar zu machen. Dr. Anne-Katharina Neddens
 

Zugleich entdeckte die Klientin aber auch einen protektiven Faktor, der über die Generationen vermittelt wurde: Für viele Verwandte war der Glaube eine große Hilfe gewesen. „Man kann versuchen, diesen Resilienzfaktor innerhalb der Therapie verfügbar zu machen“, sagte Neddens.

Selbst Personen, die sich als atheistisch bezeichnen, griffen bei traumatischen Erlebnissen durchaus auf religiöse Motive als Resilienzfaktor zurück. Neddens berichtete von einer Klientin, die kurz vor dem Zusammenstoß mit einem LKW den Gedanken hatte: „Gott ist da, schiebt sich vor mich und den Laster, den ich auf mich zurasen sehe (…) und er ist auch zu Hause bei meinen Kindern, wenn es jetzt gleich passiert. Maria Mutter Gottes.“ Neddens analysiert: „Glaube wirkt hier als Distanzierungsfaktor in der traumatischen Situation.“ 

 
Glaube wirkt hier als Distanzierungsfaktor in der traumatischen Situation. Dr. Anne-Katharina Neddens
 

Dass Religion als Resilienzfaktor schon immer eine Rolle gespielt hat, teilweise mit ähnlichen Praktiken wie heute, zeigen etwa Memo-Techniken. Dafür malten sich im Mittelalter die Menschen Bildnisse von Heiligen auf die Finger. „Heute tätowieren sich manche die Buchstaben WWJD auf die Hand“, sagt Neddens: „Um sich im Alltag zu erinnern: What would Jesus do?“ (Was würde Jesus tun?) Weltberühmt ist der Gedichtvers „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag“, vom evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer 1944 in Gestapo-Haft geschrieben.

Per App Resilienzfaktoren bei Pflegekräften prüfen

Über eine quasi fortlaufende Erhebung von Belastungen und Resilienzfaktoren berichtete Dr. Peter Tonn, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Geschäftsführer des Neuropsychiatrischen Zentrums in Hamburg. Sein Team hat die kostenlose App „Coach for Care“ zur Gefährdungsanalyse von psychischen Belastungen bei Pflegekräften entwickelt.

Denn für viele Krankheiten hat diese Gruppe ein höheres Risiko als der Durchschnitt der Beschäftigten. „Zugleich bieten 57 Prozent der Kliniken und Altenheime kein betriebliches Gesundheitsmanagement an“, sagte Tonn. Viele scheuten den Aufwand, weil schon die Anfangserhebung zu viel Zeit in Anspruch nähme. Die Erhebung per App ist daher kurz gehalten und lässt sich in rund 15 Minuten durchführen.

Abgefragt werden die Belastungen mit je 9 Fragen in 4 Bereichen: Durch die Arbeit selbst (z.B. „Ist Ihre Arbeit eintönig?“), durch die Organisation („Ist es möglich, Dienste zu tauschen?“), die Rahmenbedingungen („Gibt es die Möglichkeit zu Fortbildungen?“) und durch soziale Aspekte („Gibt es Unstimmigkeiten in Ihrem Team“).

Die Auswertung wird dann direkt angezeigt, mit einem Zeiger auf einer Skala von grün bis rot. „Damit kann man direkt zu seinem Vorgesetzten gehen und sagen, so sieht es bei uns aus. Mach was!“

Tonn wertet die Eingaben auch zentral aus – und die Ergebnisse sind nicht gut: In allen 4 Bereichen liegt der Belastungsdurchschnitt nach den bisherigen Eingaben mindestens bei knapp 5 (auf einer Skala von 0 bis 10). Vor allem die Palliativpflege hat hohe Werte. Am besten sieht es insgesamt noch bei den Heimen aus und bei der Belastung durch die Arbeit selbst in der ambulanten Pflege.

 

Kommentar

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