Am 23. Januar 1922 änderte sich das Schicksal für Patienten mit Typ-1-Diabetes schlagartig. Bis zu diesem Tag galt die Diagnose als ein sicheres Todesurteil. Fast alle Patienten starben innerhalb weniger Monate, nachdem die Krankheit bei ihnen ausgebrochen war. Doch an diesem Wintertag war einem 14-jährigen Jungen mit schwerem Typ-1-Diabetes erstmals erfolgreich das Hormon Insulin injiziert worden.
Bekanntlich haben die kanadischen Entdecker des Insulins, Frederick Banting und John Macleod, bereits ein Jahr später den Medizin-Nobelpreis erhalten. Geld verdienen wollten die beiden Wissenschaftler mit dem Hormon allerdings nicht. Sie verkauften das Patent für Insulin für je einen symbolischen Dollar an die Universität Toronto. Und Banting ging mit den Worten in die Geschichte ein: „Insulin gehört nicht mir, sondern es gehört der Welt.“
Viele US-Diabetiker können sich Insulin nicht mehr leisten
Heute, fast 100 Jahre später, gibt es allerdings so manche Menschen, die mit Insulin gerne sehr viel Geld verdienen möchten. Im New England Journal of Medicine warnen daher nun ein kanadischer und ein US-amerikanischer Mediziner eindringlich vor einer Insulin-Krise in den USA [1].
Angesichts der hohen Preise für das lebensnotwendige Hormon könnten sich viele Diabetiker – insbesondere natürlich solche, die nicht versichert seien – die Therapie schlicht nicht mehr leisten, schreiben Dr. Michael Fralick vom Mount Sinai Hospital und der Division of General Internal Medicine am Department of Medicine der Universität Toronto und Prof. Dr. Aaron Kesselheim von der Division of Pharmacoepidemiology and Pharmacoeconomics am Department of Medicine des Brigham and Women’s Hospital und der Harvard Medical School in Boston.
In Deutschland ist die Krise bislang nicht angekommen
„Hierzulande ist eine vergleichbare Krise glücklicherweise bis jetzt kein Thema“, kommentiert Dr. Nikolaus Scheper, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Niedergelassener Diabetologen (BVND), im Gespräch mit Medscape. Insbesondere deswegen nicht, weil Insulin in Deutschland generell eine Leistung sowohl der gesetzlichen als auch der privaten Krankenversicherungen sei und kaum ein in Deutschland lebender Mensch –anders als in den USA – nicht krankenversichert sei.
„Ich habe es in Einzelfällen mal erlebt, dass eine Versicherung wegen eines teureren Präparats nachgefragt hat, ob es keine preiswertere Alternative gebe“, berichtet Scheper. Aber in der Regel würden alle verfügbaren Insulin-Produkte den Patienten anstandslos bezahlt.
„Doch erfahrungsgemäß machen wir Deutsche den Amerikanern ja leider immer viel nach“, sagt Scheper. Auch hierzulande stehe man beispielsweise zunehmend vor der Situation, dass bestimmte Medikamente nicht lieferbar seien. „Beim Insulin habe ich das zwar bisher noch nicht erlebt“, sagt Scheper. „Aber da ich die Verkaufs- und Marketingstrategien der pharmazeutischen Unternehmen nicht kenne, vermag ich nicht vorherzusagen, ob die Verfügbarkeit von Insulin bei uns nicht auch möglicherweise einmal zu einem Problem werden könnte.“
Weltweit existieren nur 3 größere Produktionsstätten für Insulin
In Deutschland gebe es beispielsweise nur eine einzige Produktionsstätte für Insulin, und zwar in Frankfurt am Main, sagt Scheper: „Das ist die alte Höchst-Küche, die heute von Sanofi genutzt wird.“ Hierzulande spielten im Wesentlichen 3 große Hersteller eine Rolle, ergänzt der Diabetologe: Neben Sanofi sind das Eli Lilly und Novo Nordisk, die in Indianapolis und in der dänischen Kleinstadt Kalundborg produzieren.
Geschuldet ist dieser Zentralismus vor allem dem sehr aufwändigen und langwierigen Herstellungsverfahren, bei dem gentechnisch veränderte Hefezellen oder Bakterien zum Einsatz kommen.
Dass man sich in Deutschland auf eine einzige Produktionsstätte verlässt, hält Scheper durchaus für bedenklich. „Sollte es in Frankfurt einmal Hygiene- oder auch nur Förderbandprobleme geben, wären Lieferengpässe als Folge nahezu unausweichlich“, sagt er.
Der Mediziner geht allerdings davon aus, dass über kurz oder lang auch asiatische Länder wie China oder Japan dazu übergehen werden, Insulin-Präparate herzustellen. „Und eigentlich wäre das für uns eher eine positive Entwicklung“, sagt er. „Konkurrenz belebt schließlich den Markt.“
Manche US-Patienten haben begonnen, ihre Medikamente zu rationieren
Auch jenseits des Atlantiks dürfte sich so mancher Diabetes-Patient über neue Konkurrenz auf dem Insulin-Markt freuen. In den vergangenen 2 Jahrzehnten seien die Preise für Insulin in den USA – wo etwa 90% des verkauften Insulins von einer der 3 genannten Pharmafirmen hergestellt wird – ganz erheblich gestiegen, berichten Fralick und Kesselheim.
100 Einheiten eines kurzwirksamen Insulins kosten dort inzwischen rund 18 Dollar (gut 16 Euro). Da ein erwachsener Diabetes-Patient in der Regel täglich 0,5 bis 1 Einheit pro Kilogramm Körpergewicht benötige, würden diese 100 Einheiten bei den meisten Menschen nicht einmal 2 Tage lang ausreichen, schreiben Fralick und Kesselheim.
Da die Patienten fast immer zusätzlich ein langwirksames oder intermediär wirksames Insulin benötigten, von denen das letztere ebenfalls recht kostspielig ist, seien einige US-Amerikaner bereits dazu übergegangen, ihre Medikamente zu rationieren, berichten die Diabetologen. Das habe vielfach zu einer verschlechterten glykämischen Kontrolle und in einigen Fällen auch bereits zu einer diabetischen Ketoazidose oder sogar zum Tod geführt.
Noch immer stehen viele Insulin-Präparate unter Patentschutz
Fralick und Kesselheim führen die gestiegenen Preise im Wesentlichen auf 2 Faktoren zurück:
Zum einen erlaube das US-Gesetz den Pharmaherstellern, ihre Produkte zu jedem beliebigen Preis auf den Markt zu bringen und diese Preise mit der Zeit ohne ein vorgegebenes Limit zu erhöhen.
Zum anderen gebe es auf dem Markt der Insuline – wie schon erwähnt – kaum Konkurrenz. Generika seien praktisch nicht verfügbar, da viele der gegenwärtig erhältlichen Insuline noch Patentschutz besitzen, entweder aufgrund einer leicht veränderten Rezeptur oder einer veränderten Darreichungsform, schreiben die Mediziner.
„Dabei hat es wirkliche Innovationen in den vergangenen Jahren kaum gegeben“, sagt der deutsche Diabetologe Scheper. „Maximal 10 Prozent der neu auf den Markt gekommenen Insulin-Präparate haben meines Erachtens einen klaren Vorteil für den Patienten mit sich gebracht, den es so bis dahin noch nicht gegeben hatte.“
Als eine der wenigen echten Innovationen betrachtet Scheper z.B. das Insulin degludec (Tresiba®), ein langwirksames Basalinsulin, das Tageszeiten-unabhängig einmal täglich verabreicht wird.
Preisstreitigkeiten hatten zum vorübergehenden Aus für Insulin degludec geführt
Mit Insulin degludec seien die Schwankungen des Blutzuckers bei vielen Patienten geringer geworden, der Nüchternblutzucker habe sich vielfach stabilisiert, und es seien weniger Hypoglykämien aufgetreten, insbesondere in der Nacht. „Bei allen anderen Präparaten spielten die angekündigten Verbesserungen für die Patienten in der Praxis meiner Erfahrung nach eine eher untergeordnete Rolle“, sagt Scheper.
Aber: Tresiba® war bekanntlich in Deutschland vorübergehend vom Markt verschwunden gewesen. Dies hatte ausschließlich finanzielle Gründe gehabt. Der Hersteller Novo Nordisk hatte mit diesem Schritt auf die Forderung des GKV-Spitzenverbandes reagiert, den Listenpreis für das Medikament auf die Höhe der Kosten einer Therapie mit Humaninsulin festzusetzen.
Laut Aussage des Unternehmens wäre es wirtschaftlich nicht tragbar gewesen, Insulin degludec zu diesem Preis dem deutschen Markt weiter zur Verfügung zu stellen. Erst Ende des vergangenen Jahres kam es – auch aufgrund neuer, besserer Studiendaten – zu einer Einigung, so dass Tresiba® jetzt auch hierzulande wieder erhältlich ist.
Immer mehr US-Patienten beziehen ihr Insulin aus Kanada
Während die Patienten in den USA nicht nur auf Innovationen, sondern vor allem auch auf mehr Nachahmer-Präparate warten, die die Preise für Insulin nach unten korrigieren würden, fordern Fralick und Kesselheim schnellere Lösungen durch den Gesetzgeber.
Als Vorbild erwähnen sie unter anderem den Bundesstaat Colorado, der im vergangenen Mai beschlossen hat, dass die Kosten, die der einzelne Patient – sofern er versichert ist – für seine Insulin-Therapie zu tragen hat, 100 US-Dollar im Monat nicht überschreiten dürfen.
Lobend nennen die Autoren zudem einen der größten privaten Krankenversicherer, das Unternehmen Cigna, das kürzlich angekündigt hat, die monatlichen Kosten für seine Versicherten sogar auf 25 US-Dollar zu begrenzen.
Auch andere Bundesstaaten haben sich Fralick und Kesselheim zufolge inzwischen eine ganze Reihe von Maßnahmen überlegt, um Diabetes-Patienten künftig besser und vor allem zu angemessenen Preisen, die auch die Bedürftigkeit des Einzelnen stärker berücksichtigen, mit dem lebensnotwendigen Insulin zu versorgen.
Und die Patienten selbst haben sich offenbar ebenfalls auf die Suche nach Lösungen gemacht. Immer mehr von ihnen begeben sich auf den Weg nach Kanada, wo Insulin-Präparate auch in größeren Mengen ohne ärztliches Rezept und häufig zu einem Bruchteil der US-Preise erhältlich sind.
Doch natürlich sei Kanada nicht in der Lage, sämtliche US-Diabetiker mit ihren notwendigen Medikamenten zu versorgen, schreiben Fralick und Kesselheim. Es sei daher dringend erforderlich, sich noch einmal der wichtigen Worte zu erinnern, die der Insulin-Erfinder Banting einst ausgesprochen habe.
Und wenn die bisher erfolgten Maßnahmen, um den Wettbewerb zwischen den Insulin-Produzenten anzukurbeln und so die Preise nach unten zu korrigieren, nicht ausreichten, betonen die Mediziner, seien tiefergreifende Reformen in den USA schlicht unumgänglich.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Nach der Opioid- nun die Insulin-Krise in den USA? Fragwürdiges Marketing und Preissteigerungen gefährden Diabetes-Patienten - Medscape - 10. Dez 2019.
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