Berlin – „Männer für waghalsige Reise gesucht. Geringe Löhne, extreme Kälte. Monatelange völlige Dunkelheit. Permanente Gefahr, sichere Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Falle eines Erfolgs.“ Mit dieser Anzeige suchte Ernest Shackleton im Jahr 1914 Teilnehmer für eine Antarktis-Expedition.
Was das mit Psychotherapie zu tun hat? Hohe Risikobereitschaft ist ein Symptom für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Jugend- und Erwachsenenalter, erläuterte Prof. Dr. Marcel Romanos, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin [1]: „Auf die Anzeige meldeten sich über 5.000 Männer – und ich wette, die hatten alle ADHS.“
Für viele Mythen zu ADHS gibt es keine empirische Grundlage
Wie man ADHS in den verschiedenen Altersgruppen richtig diagnostiziert und behandelt, erläuterten Experten beim State-of-the-Art-Symposium „ADHS in der Lebensspanne“.
Doch zuerst widmete sich Romanos den Mythen rund um die Krankheit.
Mythos 1: ADHS gibt es gar nicht, mit den Medikamenten wird nur die natürliche Kreativität von Kindern unterdrückt. „Die Familien, die zu uns kommen, sind am Limit“, berichtete Romanos, „und in der Regel kurz vor dem Auseinanderbrechen.“ Die Kommunikation zwischen betroffenem Kind und Eltern sei nur noch belastend – und zwar für beide Seiten.
Mythos 2: Die Diagnosen nehmen sprunghaft zu. „Dafür gibt es keinerlei Anzeichen“, sagte Romanos. Im Gegenteil: Nach der Untersuchung zur Kindergesundheit des Robert Koch-Instituts (KiGGS) hat die diagnostizierte Prävalenz sogar abgenommen. Bei der 1. KiGGS-Erhebung 2009 bis 2012 hatten 5,3% der untersuchten Kinder die Diagnose ADHS. Bei der 2. Welle 2014 bis 2017 waren es nur noch 4,4%. „Für eine Überdiagnose gibt es also keine Anzeichen“, sagt Romanos.
Mythos 3: Die Pharmaindustrie beeinflusst die Ärzte in ihrem Sinne. Romanos legte daher Wert auf die Feststellung, dass er keinerlei Zuwendungen der Industrie annimmt. Solche Angaben sind zwar mittlerweile bei Vorträgen auf Kongressen Standard. Bei ADHS haben sie aber offenbar eine besondere Relevanz.
Gute Nachweise für die Wirksamkeit von Medikamenten
Richtig ist: ADHS ist nicht einfach zu diagnostizieren. Zwar gibt es 3 Kernsymptome:
vor allem die Störung der Aufmerksamkeit und Konzentration,
gefolgt von motorischer Unruhe und
erhöhter Impulsivität.
Doch diese kommen auch bei anderen Krankheiten vor. „Wir brauchen daher eine ganze Reihe von Tools für eine fundierte Einschätzung“, betonte Romanos, „und ich bin überglücklich, dass wir jetzt die S3- Leitlinie haben.“
Neben der strukturierten Anamnese sei die Verhaltensbeobachtung sehr wichtig. Zu Beginn der Sprechstunde nähmen sich die Kinder oft zusammen, „aber nach 30 bis 45 Minuten, wenn sie aufgetaut sind, zeigen sie dann doch die Symptomatik.“
Weitere Tools sind Tests, Fragebögen, eine somatische Untersuchung und die Differenzialdiagnostik. „Wobei jede Differenzialdiagnose auch eine Komorbidität sein kann“, betonte Romanos. 73% aller Kinder mit ADHS haben mindestens eine weitere psychische Diagnose, 22,5% sogar mindestens 3. Vor allem eine zusätzliche oppositionelle Störung ist häufig. Erst in der Gesamtwürdigung könne dann die Diagnose ADHS gestellt werden – und zwar nur vom Spezialisten.
Die Behandlung erfolgt entweder medikamentös oder in Kombination mit Psychotherapie. Romanos bezog sich hier auf die erste Langzeit-Studie zu ADHS von 1999. Demnach ist eine rein medikamentöse Behandlung fast genau so wirksam wie eine Kombination.
Zahlreiche Reviews und Metaanalysen hätten das seitdem bestätigt. „Die Number-Needed-to-Treat liegt mit 2,5 sehr niedrig. Das heißt, die Medikamente sind hoch wirksam.“
Versorgung bei Erwachsenen „katastrophal“
Auch bei ADHS im Erwachsenenalter ist die Unaufmerksamkeit das zentrale Element, wobei es auch Subtypen gibt, bei denen die Impulsivität im Vordergrund steht. Die Prävalenz beträgt 2,8%, das Verhältnis Männer/Frauen liegt bei 1,5 zu 1 – also anders als im Kindesalter, wo die Jungen noch deutlicher überwiegen.
Die Diagnosestellung erfolgt ähnlich wie bei Kindern. „Auch bei Erwachsenen sollte nach Möglichkeit eine Fremdanamnese erfolgen“, sagte Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Schulzeugnisse und biographische Berichte könnten helfen: „Wenn etwa gesagt wird, dass beruflich eigentlich mehr möglich gewesen wäre.“
Auch schriftliche Tests seien oft aufschlussreich – aber weniger durch den erreichten Punktwert als vielmehr durch die Art, wie Patienten den Fragebogen ausfüllten. Zur Illustration zeigte Philipsen den Bogen eines Patienten, auf dem dieser eigentlich nur ankreuzen sollte. Er hatte ihn aber fast vollständig mit zusätzlichen Kommentaren, Erläuterungen und Berichtigungen vollgeschrieben.
Was Philipsen besonders Sorgen macht: „Die Versorgungslage bei Erwachsenen mit ADHS ist katastrophal.“ Zwar wachse sich die Krankheit bei einem Teil der Patienten mit dem Ende der Pubertät aus – aber eben nicht bei allen.
Nach einer Studie im Deutschen Ärzteblatt erhielt von 100 Patienten mit der Diagnose ADHS rund jeder Zweite im Alter von 15 Jahren Medikamente (51,8%). Mit 21 Jahren hatten 31,2% immer noch die Diagnose. Aber nur noch 6,6% nahmen Medikamente.
Neben der Pharmakotherapie spielen bei Erwachsenen Psychoedukation, Psychotherapie und Coaching eine Rolle. „Vor allem die Psychoedukation ist sehr wichtig und Grundlage der Behandlung“, betont Philipsen.
Auch Philipsen brachte einen Beleg dafür, dass ADHS kein Phänomen der Moderne ist. 1775 beschrieb der deutsche Arzt Melchior Adam Weikard in seinem Werk „Der philosophische Arzt“ eine „Attentio volubilis“ – einen Mangel der Aufmerksamkeit: „Was man im gemeinen Leben Distraktion heißt, wenn es (die Aufmerksamkeit) an einem Gegenstande so stark haftet, oder angespannt ist, dass wir die Gegenstände, welche sich unseren Sinnen deutlich und lebhaft darstellen, weder sehen noch hören.“
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Diesen Artikel so zitieren: ADHS: Mythen erschweren noch immer die Therapie bei Kindern – und Erwachsene sind schlecht versorgt - Medscape - 3. Dez 2019.
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