Auf Großbritannien kommt eine „Cholin-Krise“ zu, wenn sich die Bevölkerung, wie von vielen Wissenschaftlern gefordert, stärker pflanzenbasiert ernährt. Denn der wichtige Nährstoff sei bisher weder in britischen Lebensmittel-Datenbanken enthalten noch gebe es Referenzwerte für die Zufuhr, schreibt Dr. Emma Derbyshire von Nutritional Insight, Surrey, in BMJ Nutrition, Prevention & Health [1].
Prof. Dr. Wolfgang Bernhard vom Universitätsklinikum Tübingen, er untersucht die Versorgung von Frühgeborenen, Schwangeren oder chronisch Kranken mit Cholin, glaubt ebenfalls, dass der Nährstoff seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde. „Cholin ist ein konstitutiver Körperbestandteil. Das bedeutet, dass es eine gewisse Organkonzentration gibt, hauptsächlich in Form von Membran-Phospholipiden“, sagte er zu Medscape. „Die Konzentration ist besonders hoch in der Leber und der Lunge, und auch im Gehirn und Nervengewebe. Ohne die Zufuhr von genügend Cholin können Zellen sich nicht vermehren.”
Deshalb sei der Bedarf in Wachstumsphasen besonders hoch, erklärt Bernhard, etwa bei Schwangeren und Babys. Eine Unterversorgung in der Schwangerschaft wird beispielsweise mit Neuralrohrdefekten in Verbindung gebracht.
Kaum Daten zum Cholin-Bedarf
Was man bisher zum Bedarf an Cholin wisse, beruhe allerdings auf keiner besonders sicheren Datenbasis, erklärt Dr. Karen Ernst-Hirsch vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Sie leitet die Fachgruppe Ernährungsrisiken am BfR und war 2016 daran beteiligt, bei der Europäischen Behörde für Nahrungsmittelsicherheit (EFSA) Referenzwerte für den Cholinbedarf abzuleiten.
Wissenschaftler sichteten dazu die vorhandene Literatur. „Die Schlussfolgerung war, dass der übliche Weg zur Ableitung von Zufuhr-Referenzwerten nicht begangen werden kann, weil die verfügbaren Daten keine robuste Basis dafür bildeten. Stattdessen hat die EFSA sich orientiert an der üblichen Aufnahme in der Bevölkerung, und daraus dann Schätzwerte gebildet für die adäquate Aufnahme“, erklärt Hirsch.
Dieser von der EFSA definierte Adequate Intake liegt bei 400 mg am Tag für gesunde Erwachsene. Schwangere und stillende Mütter benötigen mehr Cholin. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat bisher keine Zahlen veröffentlicht – im Zuge der Aktualisierung der D-A-CH-Referenzwerte soll das allerdings diskutiert werden.
Cholin ist in unserer Ernährung in der Regel verbreitet. Es kann frei in Lebensmitteln vorkommen, oder in Form von Verbindungen wie Phosphatidylcholin, besser bekannt unter dem Namen Lecithin.
Eier sind eine hervorragende Cholinquelle, und andere tierische Lebensmittel wie Fleisch oder Fisch liefern ebenfalls Cholin. Auch Pflanzen wie Vollkorngetreide oder Hülsenfrüchte enthalten zum Teil beachtliche Mengen des Nährstoffs.
Bernhard sieht deshalb für Vegetarier kein prinzipielles Versorgungsproblem. „Das kann man alles mit Bohnen, Linsen, Vollkorn, Käse und Eiern regeln. Bei Veganern wird es schwieriger“, so der Experte. „Das kann auch funktionieren, aber die Akribie, sich um jede Einzelkomponente seiner Nahrung zu kümmern, die ist ja nicht jedem gegeben.”
Eigensynthese abhängig von genetischen Polymorphismen
Cholin ist nicht komplett essentiell – der Körper kann zumindest einen Teil seines Bedarfes selbst herstellen. Wie gut das funktioniert, ist individuell verschieden. Frauen im gebärfähigen Alter haben eine höhere Eigensynthese. Es sind allerdings mehrere genetische Einzelnukleotid-Polymorphismen bekannt, welche die Abhängigkeit von Nahrungs-Cholin verstärken oder auch verringern können.
„In Westeuropa gibt es häufig Veränderungen in einem Gen des Cholinstoffwechsels der Leber – betroffene Frauen reagieren massiv auf einen Cholinmangel und bekommen sehr schnell eine Fettleber“, sagt Bernhard.
Hirsch-Ernst hingegen weist darauf hin, dass es zur Verbreitung solcher Polymorphismen in der Bevölkerung und eventuellen Folgen bisher zu wenig Daten gebe. „Es besteht erheblicher Forschungsbedarf, um Personen zu identifizieren, bei denen möglicherweise eine Minderversorgung auftritt. Das ist auch klar in der Stellungnahme der EFSA festgehalten, dass dazu mehr Informationen benötigt werden.”
Keine international anerkannten Referenzwerte
Cholinmangel führe im Tierversuch unter anderem zu einer Fettleber, und auch bei Menschen sei das eine plausible Annahme, erklärt Hirsch-Ernst. Denn Cholin ist Bestandteil von Lipoproteinen, die Fette aus der Leber abtransportieren. Allerdings kann eine Fettleber auch aus anderen Gründen entstehen, nicht nur aufgrund von Cholinmangel.
Bisher gebe es keine wissenschaftlich anerkannten Blutwerte, die einen Mangel nachweisen würden, bedauert Bernhard. „Man kann den Cholinspiegel bestimmen. Außer uns gibt es in Deutschland glaube ich kein Labor, das das macht. Es gibt aber noch keine international anerkannten Referenzwerte, bei denen man sagen kann, unterhalb dessen liegt ein Cholin-Mangel vor.”
Cholin-Mangel: Wird das Risiko unterschätzt?
Wie verbreitet ein Cholinmangel tatsächlich ist, bleibt unklar. Hirsch-Ernst sieht bei der gesunden Allgemeinbevölkerung wenig Anlass zur Sorge: „Die Gefahr eines Mangels kann man als sehr gering ansehen, allenfalls bei Resorptionsstörungen oder bei einer eklatanten Fehlernährung, aber bei Erwachsenen ist die Gefahr eines Mangels außerordentlich gering.”
Bernhard hingegen findet, dass das Risiko unterschätzt wird: „Die mediane Versorgung beträgt ca. 60% der empfohlenen Zufuhr, mit breiter Streuung. Wir können davon ausgehen, dass mehr als 10% der Bevölkerung weniger als 25% des sogenannten Adequate Intakes zu sich nehmen. Aber das sind Dinge, die müssen weiter untersucht werden.” Denn bisher gebe es in Deutschland nur wenig Zahlen zur Cholin-Versorgung.
Trotzdem geht Bernhard von einem chronischen Cholin-Mangel bei einem Teil der Bevölkerung aus. „Die Leute haben nicht gleich ein akutes Leberversagen wie eine Knockout-Maus. So läuft Cholin-Mangel beim Menschen nicht ab. Und sie kommen vielleicht auch trotzdem ganz gut durch die Schule, auch wenn sie eine verschlechterte Entwicklung haben. Aber wahrscheinlich wären doch manche Dinge besser mit einer optimalen Versorgung. “
Das allerdings ist bisher lediglich eine Hypothese. Denn den endgültigen Nachweis, dass mehr Cholin zu einer besseren kognitiven Entwicklung oder zu besserer Hirnleistung führt, gibt es nach Einschätzung der EFSA noch nicht. Die europäische Behörde hat entsprechende Health-Claims für Nahrungsergänzungsmittel mit Cholin-Gehalt, wie Lecithin, bisher nicht zugelassen.
Als erwiesen sah die Behörde jedoch an, dass der Nährstoff zu einem normalen Fettstoffwechsel und einer normalen Leberfunktion beiträgt.
Überdosis Cholin: Unklare Effekte
Auch die Folgen einer möglichen Überversorgung sind unklar. „Cholin wird über den Darm aufgenommen, da gibt es spezielle Transportsysteme, und es ist so, dass bei einer sehr hohen Aufnahme eine Art Sättigung auftritt. Das kann bedeuten, dass Reste im Darm bleiben, die dann durch Darmbakterien verstoffwechselt werden“, erklärt Karen Hirsch-Ernst.
Dabei könne unter anderem der Metabolit TMA, Trimethylamin, entstehen, der wiederum aufgenommen und in der Leber zu Trimethylaminoxid, TMAO, umgewandelt werde. „Es wird diskutiert, ob höhere Spiegel davon mit einem erhöhten Risiko an kardiovaskulären Krankheiten in Zusammenhang stehen.” Allerdings kann TMAO nicht nur aus Cholin entstehen.
„Es liegt nicht nur am Cholin, dass der TMAO-Wert ansteigt, und die Leute ein erhöhtes Artherosklerose-Risiko haben. Da sind mehrere Faktoren beteiligt, und man müsste auch die restliche Ernährung und das Mikrobiom des Darms angucken“ ergänzt Bernhard. Er findet, dass der Nährstoff mehr Aufmerksamkeit verdiene.
Ein Punkt, in dem Karen Ernst-Hirsch ihm zumindest teilweise zustimmt: „Es besteht ganz klar Forschungsbedarf. Wenn die Daten vorliegen, kann man sehen, wie man damit umgeht“, sagt die BfR-Wissenschaftlerin.
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Diesen Artikel so zitieren: Cholin-Krise? Warum Forscher vor der Mangelversorgung mit dem wissenschaftlich vernachlässigten Nährstoff warnen - Medscape - 2. Dez 2019.
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