San Francisco – „Kennen Sie das auch? Ein 70-jähriger Patient mit Lungenmetastasen unter Oxycodon ist zur Kontrolle in Ihrer Praxis … Er nimmt wegen der Atemnot und gegen die Knochenschmerzen ein langwirkendes Morphin. In Kürze steht bei ihm eine Chemo- und Immuntherapie an. Und im Herausgehen aus dem Behandlungszimmer und schon mit der Klinke in der Hand fragt er Sie: Was meinen Sie, Doktor, sollte ich auch mal dieses Cannabi-dings (Cannabidiol, CBD) versuchen, wo überall für geworben wird? – Was antworten Sie ihm dann? Sind Sie auf eine solche Frage vorbereitet?“
So begann der Onkologe Prof.Dr. Daniel Bowles, University of Colorado in Boulder, seinen Vortrag beim Supportive Care in Oncology Symposium (SCOS) 2019 [1].
80% aller Onkologen sprechen mit ihren Patienten über Cannabis
Bowles wies auf eine im vergangenen Jahr im Journal of Clinical Oncology veröffentlichte Umfrage hin: 80% aller Onkologen hatten berichtet, dass sie mit ihren Patienten über einen möglichen Cannabis-Einsatz diskutierten. Die Hälfte hatte es ihren Patienten aus „dem einen oder anderen Grund empfohlen, aber nur 30% fühlten sich bei dem Thema auch wohl“, fuhr er fort.
Diese Umfrage zeigte, dass rund ein Drittel aller Onkologen der Meinung ist, dass Cannabis genauso effektiv oder sogar wirksamer als Standardtherapien ist, und etwa 2 Drittel gaben an, dass es eine sinnvolle Ergänzung zu den bereits verordneten Medikamenten darstellen würde.
Die Umfrage ergab auch, dass Cannabis bei einer Vielzahl von Symptomen wie Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Angst, Depression und Coping-Problemen empfohlen wurde. So hielten 64,5% der Onkologen Cannabis bei schlechtem Appetit/Kachexie für wirksamer als andere Therapien, 8% bewerteten es als weniger effektiv, und 27,6% waren sich unsicher.
Bowles zitierte eine im vergangenen Jahr im European Journal of Internal Medicine veröffentlichte Studie, für die fast 3.000 Krebspatienten in Israel interviewt worden waren (Medscape hat berichtet). Forscher hatten damals herausgefunden, dass Cannabis bei 70% der Patienten mit Schlafproblemen half, bei über 50% gegen Müdigkeit, Übelkeit und Erbrechen wirkte, und sich 75% bei Angstzuständen Linderung verschafften. Darüber hinaus berichtete etwa ein Drittel der Studienteilnehmer, dass Cannabis ihnen half, weniger Opioide einzunehmen.
Der Referent schränkte ein, dass es sich um eine retrospektive Studie handele, so dass Störvariablen berücksichtigt werden müssten. „Es könnte einen Placebo-Effekt geben“, sagte er. „Die Betroffenen wurden aufgrund ihres Opioidgebrauchs ausgewählt.“
Die Schmerzen besser kontrollieren mit Opioiden und Cannabis?
Cannabis könne die Wirkung von Opiaten verstärken, kommentierte Bowles. „Und vielleicht hilft das dabei, den Opiatbedarf in manchen Situationen zu senken, statt den Schmerz nur auf eine andere Art anzugehen, und so gelangt man dann zu einer besseren Schmerzkontrolle.“
„Es gibt einige Fallbericht-Sammlungen und populationsbasierte Studien, die sich mit den Opiatverordnungen in US-Bundesstaaten mit einer Form der Marihuana-Legalisierung befasst haben. Und es besteht eine Korrelation zwischen dem Beginn einer Form der Marihuana-Legalisierung und einem Rückgang beim Opiatkonsum“, sagte Bowles.
Man sehe eine Korrelation, jedoch keine Kausalität. „Ich denke, es gibt viele andere Dinge, die hier hineinspielen könnten, aber es ist in jedem Fall ein interessanter Aspekt, der es verdient, dass man ihm nachgeht.“
Opioide in der Analgesie einsparen – mit Cannabis
Beim Symposium wurde auch eine kleine klinische Studie vorgestellt, nach deren Ergebnissen Cannabis zu einer verbesserten Schmerzkontrolle und zur Abnahme des Opioidverbrauchs führt.
Die Daten gehen auf Dr. Dylan Zylla, Onkologe und Hämatologe der Park Nicollet Foundation, HealthPartners Institute in Minneapolis, Minnesota, zurück. Er untersuchte 30 onkologische Patienten im Stadium IV, die Opioide benötigten. Alle Patienten erhielten randomisiert entweder eine frühe oder eine späte Cannabismedikation.
Die frühe Gruppe bekam Cannabis für 3 Monate direkt von Beginn an, während die späte Gruppe als Kontrollgruppe angelegt war. „Ein Teil des Problems mit dieser Studie ist, dass es eine ziemlich hohe Abbrecherquote gab“, berichtete Zylla. „Viele Menschen, besonders im späten Cannabis-Arm, begaben sich in ein Hospiz oder starben, auch schon in den ersten 3 Monaten der Studie. Leider gab es auch viele unzureichende Daten.“
Cannabis als Komedikation: Keine Dosissteigerung bei Opioiden
Insgesamt zeigten die Ergebnisse, dass Patienten, die bereits zu Beginn der Studie Cannabis erhielten, keine Dosissteigerung bei den Opioiden benötigten. Ihr mittleres Schmerzniveau lag unter dem der Patienten in der Kontrollgruppe, und ihr Score für die Lebensqualität war dem der Kontrollgruppe vergleichbar.
Nach 3 Monaten sank das mittlere Schmerzniveau, gemessen auf einer Skala von 0 bis 10 Punkten, bei Patienten in der Gruppe mit früher Cannabisgabe von 5,3 auf 4,7, während es in der Kontrollgruppe mit 6,1 versus 6,0 praktisch unverändert blieb.
Ebenso sank das mittlere individuelle Schmerzziel in der Gruppe mit früher Cannabisgabe von 3,4 auf 3,0 und in der Kontrollgruppe von 4,1 auf 3,8. Der Anteil der Patienten, welche dieses Ziel erreichten, stieg in der frühen Gruppe von 25% auf 44%, während er in der Kontrollgruppe von 38% auf 13% zurückging.
Wichtig ist, dass der Opioidkonsum in der frühen Gruppe stabil blieb. Die tägliche, oral eingenommene Morphin-Äquivalent-Dosis (oral morphine equivalent, OME) betrug zu Studienbeginn 55 und nach 3 Monaten 54, während sie in der Kontrollgruppe von 35 auf 67 anstieg. „In der frühen Gruppe hatten 44 Prozent der Patienten eine 20prozentige Reduktion ihres OME nach 3 Monaten, gegenüber 0 Prozent in der späten Gruppe“, erzählte Zylla weiter.
Bis zum Ende des 6-monatigen Untersuchungszeitraumes war fast die Hälfte der Patienten (47%) in der späten Cannabis-Gruppe gestorben, während es im frühen Cannabis-Arm nur 20% waren.
„Ich denke, es gibt bei diesen Resultaten einige möglicherweise wichtige Punkte: Der Optimist in mir würde sagen, dass es den Patienten, die 3 Monate früher Cannabis erhalten hatten, besser ging. Sie vertrugen die Behandlungen besser, überstanden zusätzliche Belastungen leichter und fühlten sich insgesamt wohler“, bemerkte er.
„Wer weiß? Vielleicht gibt es einen magischen onkologischen Benefit beim Cannabis“, sagte er halb im Scherz, „aber es ist noch viel zu früh, dazu etwas zu sagen.“
Bislang weiß man aber, dass Cannabis im Allgemeinen gut vertragen wurde. Es führte zu einer verbesserten Schmerzkontrolle, besserte auch andere Symptome und senkte den Opiatbedarf. „Und wenn Sie jetzt diese hier beschriebenen Patienten behandeln, halten Sie ein einziges Medikament gegen Schmerzen, Übelkeit, Angst, Schlaflosigkeit und all diese Dinge in der Hand“, so Zylla, „und das ist Cannabis, das diese Wirkungen auch noch in relativ sicherer Weise entfaltet.“
Die Einschränkung laute aber immer noch, dass „wir nicht wirklich wissen, wie man es am besten einsetzt“, führte er weiter aus. „Wir haben nicht genügend Daten, um über Dosierungen, Produkte oder Darreichungsformen zu diskutieren. Daher sind hier weitere Untersuchungen wie die vorliegende erforderlich.“
Zylla und sein Team haben mehrere Studien in der Pipeline, von denen einige bereits gefördert werden. Die Forscher hoffen, Anfang 2020 zu starten.
Cannabis: Verschiedene Einnahmeformen, unterschiedliche Wirkung
Bowles wies auf einige weitere Punkte hin, die Onkologen beachten sollten, wenn sie mit Patienten über Cannabis sprechen. Einer davon sind die verschiedenen Einnahmeformen: Man kann es rauchen, inhalieren oder mit Lebensmitteln bzw. als Tinktur oral aufnehmen. Wann die Wirkung einsetzt und wie lange der Effekt anhält, hängt von der verwendeten Methode ab.
Es könne auch sehr schwierig sein, „genau zu bestimmen, welche therapeutische Dosis die richtige ist, sowohl in Bezug auf die Wirksamkeit als auch hinsichtlich der Bedenken zur Toxizität“, stellte Bowles fest. Dies treffe auf Mengenangaben zu den beiden Hauptwirkstoffen, CBD und THC, ebenfalls zu.
Wechselwirkungen werfen neue Fragen auf
Cannabinoide interagierten mit anderen Wirkstoffen, doch sei die klinische Relevanz dieser Wechselwirkungen noch unklar, so Bowles weiter.
Es gibt Anzeichen dafür, dass Cannabis eine Immuntherapie beeinträchtigen kann. Einige Untersuchungen haben Hinweise geliefert, dass bei Patienten mit Melanomen, Nierenkrebs und Lungenkrebs der Konsum von Cannabis mit einem schlechteren Ansprechen der Therapie verbunden ist. Allerdings korreliert dieser Befund nicht mit dem Gesamtüberleben oder dem progressionsfreien Überleben.
„Ich glaube nicht, dass wir auf dieser Grundlage definitive Aussagen treffen können, aber Sie haben ein Argument auf Ihrer Seite“, sagte Bowles. „Cannabinoide haben eine entzündungshemmende Wirkung, und wir vermeiden es, andere Entzündungshemmer zu geben, wenn Patienten Cannabinoide nehmen. So können Sie sich auch etwas darauf zurückziehen, dass dieser Punkt möglicherweise wichtig ist.“
Zu Immuntherapien erklärte Bowles: „Wir wissen es in diesem Fall einfach nicht. Wenn es andere Wirkstoffe gibt, die Ihnen ebenfalls bei der Kontrolle Ihrer Symptome helfen, sollten wir vielleicht diese ausprobieren.“
Onkologen rät der Experte, mit der niedrigsten wirksamen Dosis zu beginnen und dann langsam hochzutitrieren: „Lassen Sie sich von den Patienten die Nebenwirkungen schildern und machen Sie sich die Regeln zur Anwendung in Ihrem jeweiligen Bundesstaat bewusst, denn die einzelnen Staaten sind in Bezug auf die Art und Weise, wie die Produkte verarbeitet werden, wie sie validiert werden usw. unterschiedlich streng. Und achten Sie auf Wechselwirkungen mit Medikamenten.“
Sein Fazit: „Ich denke, wir sollten Cannabis immer als wirksames Medikament betrachten, dass jedoch nicht annähernd so streng kontrolliert wird, wie wir das von vielen anderen Mitteln gewohnt sind.“
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: 8 von 10 Onkologen sprechen mit Patienten über Cannabis – doch die Datenlage ist schlecht. Wer profitiert wirklich? - Medscape - 28. Nov 2019.
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