„Wir stellen fest, dass die Zahl der Lieferengpässe von Arzneimitteln in den vergangenen Jahren leider zugenommen hat“, so Prof. Dr. Michael Hallek, Köln, Geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) auf einer Pressekonferenz der Gesellschaft in Berlin [1].
„Besonders skandalös ist dabei, dass in hoch entwickelten Regionen wie Mitteleuropa und Deutschland auch lebenswichtige Arzneimittel wie Krebsmedikamente knapp werden. Das ist völlig inakzeptabel.“ Dass sich Lieferengpässe nicht automatisch zu Versorgungsengpässen entwickeln, sei nur einer gemeinsamen Kraftanstrengung verschiedener Akteure zu verdanken.
Verunsicherung bei Patienten und Ärzten
„Wirkliche Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln sind zwar weiterhin selten, die Verunsicherung bei Patienten und Ärzten ist aber hoch“, konstatierte Prof. Dr. Bernhard Wörmann, Berlin, Medizinischer Leiter der DGHO. Besonders spürbar sei dies in der Onkologie, „wo die medikamentöse Tumortherapie bei vielen Krebspatienten ein zentrales Element der Behandlung darstellt und ihre Überlebenschance von der Verfügbarkeit eines Arzneimittels abhängen kann.“

Prof. Dr. Bernhard Wörmann
Für die – weltweit und auch bei anderen Medikamentengruppen wie Antibiotika, Antihypertensiva, Schmerzmitteln, Antidepressiva oder Impfstoffen – beobachteten Lieferengpässe werden verschiedene Entwicklungen bzw. Ursachen verantwortlich gemacht. Dazu gehören Qualitätsmängel in der Produktion verbunden mit der Tatsache, dass immer weniger Hersteller die Produktion eines einzelnen nicht mehr patentgeschützten Arzneimittels übernehmen. Für den Fall von Problemen im Herstellungsprozess, die Produktionsausfälle bedingen, stehen dann möglicherweise kaum Alternativen zur Verfügung.
Einen anderen Grund in Deutschland sehen einige in den Rabattverträgen der Krankenkassen mit den Arzneimittelfirmen, die für die Abgabe eines bestimmten Medikaments den Hersteller vorschreiben. Hat dieser Lieferprobleme, kann nicht ohne Weiteres auf das Präparat eines anderen Herstellers ausgewichen werden.
Vor allem „alte“ Onkologika betroffen
Von Engpässen bei Onkologika sind Wörmann zufolge vor allem „alte“ Arzneimittel betroffen, Versorgungsengpässe bei neuen Arzneimitteln seien sehr selten. Er berichtete über den aktuellen Fall des Zytostatikums Cytarabin, das seit mehr als 40 Jahren Standard in der Induktionstherapie von Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) ist und auch bei akuter lymphatischer Leukämie (ALL) und aggressiven Lymphomen eingesetzt wird.
Im Sommer dieses Jahres kam es zu einem Engpass des Medikaments, weil bei dem europäischen Hersteller von Cytarabin in Italien eine mikrobielle Kontamination die Auslieferung der betroffenen Charge verhinderte.
Nachdem das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einen Versorgungsmangel mit cytarabinhaltigen Arzneimitteln attestierte und auf die Unverzichtbarkeit von Cytarabin bei der Behandlung bestimmter Leukämien und Lymphome hinwies, konnte das Problem gelöst werden: Die Feststellung und die Veröffentlichung im Bundesanzeiger ermöglichte es den zuständigen Behörden der Länder, die neuen Vorgaben des Arzneimittelgesetzes (AMG) §79 Absatz 5 umzusetzen und im Oktober eine größere Charge von Cytarabin aus den USA zu importieren – allerdings zum vierfachen des europäischen Preises.
Definition unverzichtbarer Arzneimittel
Ein wichtiger Schritt hin zu mehr Transparenz und verbessertem Informationsfluss war, so BfArM-Präsident Prof. Dr. Karl Broich, im Jahr 2016 die Implementierung eines Jour fixe beim BfArM zu Liefer- und Versorgungsengpässen bei Arzneimitteln. Am Jour fixe beteiligt sind die medizinischen Fachgesellschaften und die pharmazeutische Industrie.
In einem Positionspapier vom Juli dieses Jahres verständigte sich der Jour fixe auf eine Definition unverzichtbarer Arzneimittel und formulierte Empfehlungen zur Vertragsgestaltung zwischen Kliniken und pharmazeutischen Unternehmen, um die Lieferfähigkeit versorgungsrelevanter Arzneimittel zu verbessern. Zu den Kriterien versorgungskritischer Lieferengpässe gehört demnach u.a., dass sich bei Nicht-Verfügbarkeit des jeweiligen Arzneimittels die Prognose der betroffenen Patienten verschlechtert, das Arzneimittel in aktuellen Leitlinien der Fachgesellschaften empfohlen wird und es für das Mittel keine gleichwertige Alternative gibt.
Forderung nach Register mit Meldepflicht
Bereits im Jahr 2013 wurde beim BfArM ein Register für Lieferengpässe eingerichtet. Derzeit werden dort Engpässe für knapp 300 Präparate aufgelistet. Für die Arzneimittelhersteller meldepflichtig sind auch nach einer aktuellen Gesetzesänderung im „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) vom August 2019 bisher nur Lieferengpässe an Krankenhäusern.
„Ein solches Register“, so Krebsmediziner Wörmann, „ist in der Onkologie allerdings nur brauchbar, wenn es zuverlässig über alle Arzneimittel einschließlich der supportiven Therapie Auskunft gibt.“ Die DGHO fordert deshalb ein verpflichtendes Register für sämtliche Lieferengpässe, also auch diejenigen, die nicht nur Patienten in Krankenhäusern, sondern auch alle von niedergelassenen Ärzten Betreuten betreffen.
Weitere Forderungen der DGHO zur Vermeidung von Liefer- und Versorgungsengpässen sind eine Vorratshaltung versorgungskritischer Medikamente über einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten, Verträge mit langfristiger Liefersicherheit sowie die Förderung qualitativ hochwertiger Herstellung von Arzneimitteln nach EU-Standard, damit weniger Lieferengpässe durch Qualitätsmängel in der Produktion entstehen.
Patienten über Ersatz- oder Alternativpräparate aufklären
„Für den Arzt in Klinik oder Praxis wird der Lieferengpass vor allem dann zum Problem, wenn es sich um ein versorgungskritisches unverzichtbares Präparat handelt oder wenn Präparate ausgetauscht werden, die besonders empfindliche bzw. vulnerable Patienten wie Krebspatienten betreffen“, so der Onkologe im Gespräch mit Medscape.
Hier könne bereits eine andere Darreichungsform oder Farbe eines Medikaments den Patienten verunsichern und unter Umständen negativ seine Compliance beeinflussen. „Wird ein gewohntes, aber nicht mehr verfügbares Mittel gegen ein äquivalentes Ersatzpräparat ausgetauscht, sollte der Arzt seinen Patienten darüber aufklären und ihm die Sicherheit geben, dass er damit genauso gut behandelt wird“, rät Wörmann.
„Für versorgungskritische Präparate, für die bei einem Engpass kein äquivalenter Ersatz zur Verfügung steht, machen die Fachgesellschaften – im Rahmen des Jour fixe – wie bei einer Leitlinie Vorschläge für eventuelle Medikations-Alternativen.“ Bei solchen Engpässen sei Ärzten zu empfehlen, sich auf der Website des BfArM oder der jeweiligen Fachgesellschaft entsprechend darüber zu informieren.
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Diesen Artikel so zitieren: Arzneimittel-Engpässe bedrohen Krebspatienten – Onkologen versuchen, das Schlimmste zu verhindern - Medscape - 27. Nov 2019.
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