Berlin – „Wir brauchen mehr vom Altbewährten und weniger von schlecht evaluiertem Neuen“: So fasste Prof. Dr. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), die Ziele der neuen Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ auf der Pressekonferenz zusammen [1].
Die DEGAM sieht viele nicht notwendige Behandlungen in Deutschland, zum Beispiel „bei koronarer Herzerkrankung zu viele Katheter und zu viele Stents“, sagt Scherer, „aber zu wenig optimale, medikamentöse Therapien.“ Um Abhilfe zu schaffen, fordert die Gesellschaft unter anderem, dass der Zugang zur Facharzt-Ebene nur noch über den Hausarzt laufen sollte.
Überflüssige Behandlungen oft bei Fachärzten
Die Leitlinien-Empfehlungen sind nicht neu, sondern wurden aus bestehenden Leitlinien der DEGAM bzw. mit DEGAM-Beteiligung extrahiert und priorisiert. Sie stehen jetzt gebündelt zur Verfügung.
Von den 26 Empfehlungen beziehen sich 21 auf die Überversorgung. So soll beispielsweise der Hausarzt dem Patienten „verständlich machen, dass die meisten Halsschmerzen viral bedingt sind und dass bei Virusinfektionen Antibiotika nicht helfen“.
Und Mittel gegen Demenz machen nur Sinn, wenn auch eine Verlaufskontrolle erfolgt und diese keine Verschlechterung zeigt. Eine weitere Empfehlung: „Transdermale Opioide sollen nicht zur Behandlung akuter und subakuter nicht-spezifischer Kreuzschmerzen angewendet werden.“
Die meisten Überversorgungs-Warnungen beziehen sich aber auf Behandlungen, die bei Fachärzten durchgeführt werden. Etwa ein generelles Screening auf Hautkrebs – hier bewertet die DEGAM die Evidenz als „unzureichend“. Ein PSA-Test auf Prostatakarzinome soll gar nicht aktiv angesprochen werden, auf Nachfrage soll der Arzt dem Patienten genau die Vor- und Nachteile erläutern.
Der langjährige Landarzt Dr. Hans-Otto Wagner kennt viele Geschichten von Patienten, denen Behandlungen ohne Evidenz „verkauft“ wurden – im wahrsten Sinne des Wortes, denn vieles sind IGeL-Leistungen.
So habe er einer 51-jährigen Frau zur Krebsfrüherkennungs-Untersuchung beim Gynäkologen geraten. Dort bekam sie aber zusätzlich eine Ultraschallaufnahme der Eierstöcke, „ein aus wissenschaftlicher Sicht nicht empfehlenswertes Screening“, das zudem selbst bezahlt werden muss. Wegen eines unklaren Befundes wurde die Frau dann operiert – ohne Hinweise auf Krebs.
Wagner erfuhr das alles erst hinterher. Inzwischen schreibt er auf Überweisungsscheine oft den Zusatz „Bitte keine IGeL-Leistungen“. Das kommt bei seinen Facharzt-Kollegen nicht gut an.
Doch für Wagner sind solche Angebote nicht mit dem ärztlichen Ethos vereinbar. „Der Patient ist entweder krank oder er hat Angst vor einer Krankheit. Dadurch hat er Freiheitsgrade verloren und kann nicht wie ein Kunde entscheiden.“ Wer wie manche Kollegen 30% seiner Einnahmen mit IGeL-Leistungen mache, „der soll seine Kassenzulassung zurückgeben“.
Bei Innovationen erst den Nutzen prüfen
Doch das System fördere auch kassenfinanzierte Überversorgung, kritisiert Scherer. Etwa durch eine hohe Dichte an Einrichtungen: „Ob die Gaumenmandeln, der Blinddarm, die Prostata entfernt werden, hängt mehr vom Wohnort ab als von objektiven medizinischen Befunden.“ Kritisch sieht er auch, dass viele – wie er es nennt – „Innovatiönchen“ künstlich aufgeblasen würden, „und zugleich haben wir Millionen Menschen, die medikamentös nicht richtig eingestellt sind“.
Von der Politik wünscht sich der DEGAM-Präsident daher ein klares Bekenntnis zur evidenzbasierten Medizin. „Innovationen sollten erst dann eingesetzt werden, wenn ihr Nutzen durch harte Daten erwiesen ist.“
Die DEGAM wünscht sich wieder eine stärkere Lotsenfunktion des Hausarztes. Diese könnte etwa dadurch gewährleistet werden, dass nur er den Patienten zu einem Facharzt überweisen kann. „Der Zugang zur nächsten Ebene sollte gesteuert werden“, sagt Scherer, „innerhalb der Ebene hat der Patient dann wieder freie Arztwahl.“ Grundsätzlich brauche es wieder eine Medizin, die weniger an Diagnosen ausgerichtet ist und mehr am ganzen Menschen.
DEGAM kritisiert auch Unterversorgung
Manche Krankheiten werden aber auch zu wenig behandelt, warnt die Leitlinie. So sollte der Hausarzt bei „primärer ungeklärter Müdigkeit“ auch an eine Depression oder Angststörung denken und diese anhand von Screening-Fragen eruieren.
Patienten mit Husten sollten nach ihrem Tabakkonsum gefragt werden. Und bei der Behandlung von Personen mit Demenz „soll ein besonderer Fokus auf die spezifischen Risiken der übrigen Familienmitglieder als besonders vulnerabler Gruppe gelegt werden“. Denn diese litten oft mehr als der Patient selbst. Und sind wahrscheinlich froh, wenn der Arzt sie darauf anspricht.
Die Leitlinie ist im Internet in einer Kurz-, Lang- und Patientenfassung verfügbar und wird fortlaufend aktualisiert.
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Diesen Artikel so zitieren: DEGAM: Erst zum Hausarzt, danach zum Facharzt – eine mögliche Strategie gegen die medizinische Überversorgung? - Medscape - 26. Nov 2019.
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