Paradigmenwechsel in der Kardiologie? Invasive Strategie kann Eventrate bei stabiler KHK nicht substanziell senken

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

22. November 2019

Philadelphia – Millionen von Menschen mit einer stabilen koronaren Herzerkrankung (KHK) scheinen nicht wirklich von einer heute vielerorts routinemäßig angewendeten frühen invasiven Therapie profitiert zu haben. Denn perkutane Koronarintervention (PCI) und Bypass-OP können die Rate schwerer kardiovaskulärer Komplikationen gegenüber bestmöglicher Medikation alleine nicht signifikant senken. Das zeigen die negativen Ergebnisse der ISCHEMIA-Studie, die auf dem Jahreskongress der American Heart Association (AHA) in Philadelphia präsentiert wurden [1].

 
Nach mehr als 5 Jahren Follow-up sahen wir keine Evidenz, dass sie mit der invasiven Strategie länger leben. Dr. Judith Hochman
 

Eigens für die Vorstellung dieser mit Hochspannung erwarteten Studienergebnisse, von vielen als letzte Chance, die Revaskularisierung endgültig auch bei Patienten mit stabiler KHK als unverzichtbar zu etablieren, hatte die AHA eine „Late Breakers“ Session eingerichtet.

PCI kann die Prognose nicht bessern

„Wir haben insgesamt keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich des primären und des wichtigsten sekundären Endpunkts feststellen können“, berichtete Studienleiterin Dr. Judith Hochman, New York University School of Medicine, New York City, USA.

 
Hatten Patienten jedoch Brustschmerzen zu Studienbeginn, brachte die invasive Strategie Besserung.  Dr. Judith Hochman
 

Die an 320 Zentren in 37 Ländern durchgeführte International Study of Comparative Health Effectiveness With Medical and Invasive Approaches (ISCHEMIA) sollte klären, ob die zusätzliche routinemäßige Durchführung einer invasiven Strategie einen Nutzen bringt bei Patienten mit stabiler KHK, bei denen moderate bis schwere Ischämien nachgewiesen wurden. Patienten mit einer Hauptstammstenose wurden ausgeschlossen.

Nachdem die PCI die Mortalitäts- und Infarktraten in den Studien COURAGE und BAARI 2D gegenüber alleiniger medikamentöser Therapie nicht senken konnte, hat die Open-Label-Studie ISCHEMIA also eine schon lange und unter Kardiologen heiß diskutierte Frage nun endgültig beantwortet:

Dr. Judith Hochman

Nach einem Beobachtungszeitraum von durchschnittlich 3,3 Jahren waren die Eventraten unter invasiver versus medikamentöser Therapie für den primären Endpunkt in etwa gleich (13,3% vs 15,5%). Der primäre Endpunkt war eine Kombination aus kardiovaskulärer Mortalität, Myokardinfarkt, Hospitalisierung aufgrund von instabiler Angina pectoris, Hospitalisierung aufgrund einer Herzinsuffizienz oder wiederbelebter Herzstillstand.

Im sekundären Endpunkt, kardiovaskuläre Mortalität und Myokardinfarkt, zeigten sich ebenfalls keine signifikanten Unterschiede (11,7% vs 13,9%).

Fast 5.200 Patienten aus 37 Ländern

Insgesamt 5.179 Patienten wurden randomisiert zu einer von 2 Gruppen:

  • frühe Herzkatheteruntersuchung, gefolgt von einer PCI oder, falls erforderlich, zu einer Bypass-OP, plus bestmöglicher medikamentöser Therapie oder

  • ausschließlich bestmögliche medikamentöse Therapie.

Nur falls die Medikamente nicht zu einer Besserung führten, wurden letztere Patienten invasiv behandelt.

„Interessanterweise kreuzten sich die Kurven nach 2 Jahren“, berichtete Hochman. Das heißt: Früh in der Beobachtungsphase traten unter konservativer weniger Ereignisse auf als unter invasiver Therapie. Auch nach 6 Monaten gab es unter der Medikation 1,9% weniger Ereignisse.

 
Wir müssen uns nicht verpflichtet fühlen, Patienten mit einer stabilen Herzerkrankung und kontrolliertem oder toleriertem Brustschmerz direkt ins Katheterlabor zu bringen. Dr. Alice K. Jacobs
 

Nach 4 Jahren Follow-up dagegen war die Event-Rate bei Patienten, die invasiv mit früher Angiografie plus PCI oder Bypass-OP behandelt wurden, um 2,2% niedriger.

Das gleiche Muster ergab sich beim sekundären Endpunkt. Nach 4 Jahren betrug die Mortalitätsrate in dieser gut behandelten Patientenpopulation nur 6,5 bzw. 6,4%, bemerkte Hochman.

„Die Ergebnisse zur Lebensqualität waren beeindruckend“, so Hochman weiter. Bei Patienten, die anfangs täglich, wöchentlich oder monatlich über Brustschmerz klagten, besserten sich die Symptome mit der invasiven Strategie eher als unter ausschließlich medikamentöser Therapie.

Entscheidend für Patienten sei ein langes und beschwerdearmes Leben. „Nach mehr als 5 Jahren Follow-up sahen wir keine Evidenz, dass sie mit der invasiven Strategie länger leben“, sagte Hochmann. „Hatten Patienten jedoch Brustschmerzen zu Studienbeginn, brachte die invasive Strategie Besserung.“

Nicht alle müssen ins „Cath Lab“

Von der Medikations- in die Revaskularisierungsgruppe mussten nur 23% der Patienten wechseln. „Dieses Ergebnis spielt eine wichtige Rolle“, schreibt Dr. John Mandrola, der kardiale Elektrophysiologie in Louisville, Kentucky, praktiziert, in einem Studienkommentar auf Medscape . Das bedeute nämlich, dass 3 Viertel der Patienten mit signifikanter Ischämie und dokumentierter koronarer Arterienerkrankung nicht zur PCI gewechselt haben. „Diese Tatsache hat enorme gesellschaftliche Implikationen“, schreibt er.

Dr. Alice K. Jacobs

„Was wir bis heute von der Studie lernen ist, dass wir uns nicht verpflichtet fühlen müssen, Patienten mit einer stabilen Herzerkrankung und kontrolliertem oder toleriertem Brustschmerz direkt ins Katheterlabor zu bringen“, kommentierte Dr. Alice K. Jacobs, Boston University Medical Center, Boston. Sie war zur Diskussion der Studie in die „Late Breakers“-Session eingeladen worden.

 
Wir müssen uns nicht verpflichtet fühlen, Patienten mit einer stabilen Herzerkrankung und kontrolliertem oder toleriertem Brustschmerz direkt ins Katheterlabor zu bringen. Dr. Alice K. Jacobs
 

Auch Podiumsmitglied Dr. Roxana Mehran, Icahn School of Medicine am Mount Sinai Medical Center, New York City, ist von einem Paradigmenwechsel nach ISCHEMIA überzeugt. „Das wird die klinische Praxis verändern, da momentan die meisten dieser Patienten im Katheterlabor landen, und wir annehmen, sie ‚reparieren‘ zu können“, sagte sie während der Diskussion nach der Präsentation von ISCHEMIA.

Hype zu Kosten der Herzkatheter-Studie

Im Vorfeld wurde auch über die hohen Kosten der rund 100 Millionen US-Dollar teuren und vornehmlich vom US-amerikanischen National Heart, Lung and Blood Institute (NHLBI) finanzierten ISCHEMIA Studie debattiert. 

 
Das wird die klinische Praxis verändern. Dr. Roxana Mehran
 

„In den sozialen Netzwerken wurde viel über diese 100 Millionen Dollar geschrieben“, sagte Hochman. „Wir haben aber auch errechnet, dass wir jährlich mehr als 500 Millionen Dollar sparen, wenn asymptomatische Patienten keiner PCI unterzogen werden. „Das war keine einfache pragmatische Studie. Alles wurde von einem Zentrallabor gelesen – das kostet Geld. Ich denke, das war sinnvoll investiertes Geld“, sagte sie unter tosendem Applaus.

 
Die größte Herausforderung in der Medizin ist es, die Patienten zur genauen Einnahme ihrer Medikamente zu bewegen und ihren Lebensstil zu ändern, um Risikofaktoren zu mindern. Dr. Judith Hochman
 

In ihrem Vortrag wies Hochman auf die Bedeutung der Therapie-Adhärenz hin. „Die größte Herausforderung in der Medizin ist es, die Patienten zur genauen Einnahme ihrer Medikamente zu bewegen und ihren Lebensstil zu ändern, um Risikofaktoren zu mindern.“

ISCHEMIA zeige, dass Medikamente, die die systemische Erkrankung behandeln, gut wirken, kommentierte Mandrola auf Medscape. „Lebensstiländerungen, Basismedikamente und Rauchstopp funktionieren, weil jedes davon die Atherosklerose im Allgemeinen behandelt.“ Darauf deute auch die Tatsache hin, dass 96% der Patienten nach 3,3 Jahren noch am Leben waren.
 

Kommentar

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