Tödliche Attacke auf einen prominenten Chefarzt: Fritz von Weizsäcker wurde bei einem Vortrag erstochen – Gewalt gegen Ärzte nimmt zu

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

20. November 2019

Aktualisiert am 21. November 2019

Die Fassungslosigkeit ist groß: Gestern Abend wurde der Mediziner Fritz von Weizsäcker, seit Juli 2005 Chefarzt der Inneren Abteilung der Schlosspark-Klinik Berlin, erstochen. Von Weizsäcker, Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, hielt gerade einen Vortrag in der Berliner Schlossparkklinik, als ein Mann aus dem Zuschauerraum mit einem Messer auf ihn losging. Der 59-jährigen von Weizsäcker starb noch vor Ort. Der Tatverdächtige wurde festgenommen. Das Tatmotiv war laut Staatsanwaltschaft Berlin wohl eine wahnbedingte allgemeine Abneigung gegen die Familie Weizäcker. 

Was genau geschah

„Bei einem Vortrag in der Schlosspark-Klinik in Charlottenburg kam es zu einem gewalttätigen Übergriff auf den Redner. Trotz sofort eingeleiteter Reanimation erlag er den Verletzungen“, twittert die Polizei Berlin, auf deren Account es zu vielen Beileidsbekundungen kommt, aber auch schon wieder fleißig spekuliert wird, welche Nationalität der Täter wohl hatte.

Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet, ereignete sich der Vorfall gegen 18.50 Uhr. Von Weizsäcker hatte beim „Forum 11/2019“ im Tagungsraum Haus H der Abteilung für Psychiatrie einen Vortrag zum Thema „Fettleber – (K)ein Grund zur Sorge?“ gehalten, als er unvermittelt angegriffen worden sei.

Ein 33 Jahre alter Polizist des LKA, der privat dort war, ging dazwischen und wurde selbst schwer verletzt. Mehrere Menschen aus dem Publikum halfen laut Polizei, den Täter festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Um 18.59 Uhr ging bei Feuerwehr und Polizei der Notruf ein, doch Rettungssanitäter und Notarzt konnten dem schwer verletzten Mediziner nicht mehr helfen. Ein Wiederbelebungsversuch blieb erfolglos. Mehrere Personen am Tatort mussten von Notfallseelsorgern betreut werden, so die Berliner Feuerwehr. Am Mittwochmorgen teilte die Berliner Polizei mit, dass der Mann, der noch versucht hatte, von Weizsäcker zu helfen, „außer Lebensgefahr“ sei.

Zu dem Vortrag waren etwa 20 Zuschauer gekommen. Der Tatverdächtige soll in der ersten Reihe gesessen haben. Die Tatwaffe war ein Messer. Wie die Polizei am Mittwochmorgen weiter mitteilte, handelt es sich bei dem Täter um einen 57-jährigen Deutschen, der zuvor nicht polizeibekannt gewesen sei. Eine Mordkommission hat die Ermittlungen aufgenommen.

 
Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte verurteile ich aufs Äußerste. Dilek Kalayci
 

„Wir trauern um einen guten Freund und langjährigen Weggefährten“, schreibt Ulf Fink, Senator a.D. und Vorsitzender des Vorstands von Gesundheitsstadt Berlin, in einer Stellungnahme. Seit 2007 war Fritz von Weizsäcker Vorstandsmitglied von Gesundheitsstadt Berlin gewesen. Bestürzt zeigte sich u.a. auch die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci, die twitterte: „Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte verurteile ich aufs Äußerste.“

Gewalt gegen Ärzte – geradezu alltäglich

Im Januar dieses Jahres kündigte das Klinikum Nürnberg an, sein Sicherheitspersonal aufgestockt zu haben. Der Grund: Immer häufiger rasten Patienten und Angehörige aus. So gab es 2018 es 380 Fälle von verbalen und tätlichen Angriffen auf das Pflegepersonal, von Vandalismus und Diebstählen. Ende Juli 2016 hatte der Mord an einem Kieferchirurgen in der Berliner Charité, im August vergangenen Jahres der tödliche Angriff auf einem Hausarzt in Offenburg Entsetzen ausgelöst.

Dem „Krankenhaus Barometer 2019“ zufolge, registrieren 73% der Kliniken in ihren Notfallambulanzen körperliche und verbale Übergriffe auf die Mitarbeiter. In den vergangenen 5 Jahren sei die Zahl der Attacken gestiegen, sagen 58%.

Aus einer Studie der Hochschule Fulda geht hervor, dass Alkohol und Drogen auf Seiten der Patienten und ihrer Begleitpersonen in hohem Maße mitverantwortlich sind für die Ausbrüche, in 85% der Fälle. Aber auch die Wartezeiten lösen Aggressionen aus. Das Erleben von Gewalt sei in den Notaufnahmen zur Normalität geworden, erklärte das Personal aus rund 50 hessischen Notaufnahmen, nachts fühle man sich meistens nicht mehr sicher.

Ob Klinik oder Praxis – Gewalt gegen Ärzte ist nahezu alltäglich geworden. Das legen auch die Ergebnisse einer Umfrage des Infas-Instituts für die KBV und den NAV-Virchow-Bund nahe, in der über 11000 Niedergelassene befragt wurden. Pro Arbeitstag kommt es in deutschen Arztpraxen 75 Mal zu körperlicher Gewalt. Jeder 4. an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt hat in seinem Berufsleben schon Erfahrung mit körperlicher Gewalt seitens von Patienten gemacht und jeder 6. Praxis-Arzt hatte im letzten Jahr Kontakt mit körperlicher Gewalt (17%), das sind 25.050 Vertragsärzte.

„Gewalt ist längst Alltag in unseren Praxen. Und es wird immer schlimmer. Die allgemeine Verrohung und ein immer höheres Anspruchsdenken sind die Ursache dafür“, stellt Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes in einer Pressemitteilung dazu fest.

Neue gesetzliche Regeln gefordert

Wie Medscape berichtet hatte, fordern sowohl die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) als auch der NAV-Virchow-Bund wegen der Gewalt in den Praxen neue gesetzliche Regelungen vom Gesetzgeber. Nach ihrer Ansicht sollen Ärzte in den Straftatbestand „Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB)“ aufgenommen werden. Damit wären sie den Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften gleichgestellt.

Beim 121. Ärztetag in Erfurt war Gewalt gegen Ärzte und medizinisches Personal ein großes Thema. In dem Entschließungsantrag werden der Gesetzgeber, die Bundesärztekammer und die Landesärztekammern aufgefordert, der zunehmenden Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und medizinisches Personal entgegen zu wirken. Und auf dem 122. Ärztetag in Münster 2019 wurde der Gesetzgeber aufgefordert, den strafrechtlichen Schutz für Hilfeleistende bei Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not zu erweitern.

Wie präsent das Thema in der Ärzteschaft ist, zeigt auch der Berliner Kongress „Gewalt gegen Ärzte und medizinisches Fachpersonal“, der Ende März bereits zum dritten Mal stattfand und von Gewalt gegen Ärzte organisiert wird. Ziel der Seminarkurse ist, das Problembewusstsein zu schulen und konkrete Handlungshilfen zu entwickeln. Verschiedene Referenten erläutern, wie man sich am besten verhält, wenn es in der Praxis brodelt – dazu gehören auch konkrete Tipps zur Selbstverteidigung.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat nun unlängst angekündigt, das Strafrecht bei Gewalt gegen Ärzte und Rettungskräfte zu verschärfen. „Härtere Strafen für Prügler und Pöbler in Gesundheitseinrichtungen können abschreckend wirken und sind deshalb gut und richtig“, erklärte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt, Ende Oktober in einer Stellungnahme. Wir verstehen die angekündigte Strafrechtsverschärfung aber auch als eine Solidaritätsadresse der Politik an all jene, die oftmals sogar ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, um anderen Menschen in Notsituationen zu helfen. Die Initiative des Bundesgesundheitsministers kann ein starkes Signal dafür sein, Gewalt gegen Retter und Helfer gesellschaftlich zu ächten.“

Reinhardt erinnert daran, dass Ärzte auch außerhalb der Notfallversorgung von Gewalt betroffen sind: Nach einer Studie des Deutschen Ärzteblattes sind 91% der Hausärzte bei der Arbeit bereits Opfer von aggressivem Verhalten geworden. Fast 40% der Ärzte berichten zudem über verbale Gewalt in den letzten 12 Monaten. Die jeweiligen Angebote der Ärztekammern zur Gewaltprävention erstrecken sich von Meldeangeboten bis hin zu konkreten Beratungsleistungen, Deeskalationskursen, Sicherheitstrainings und Kommunikationskursen.

Woher rührt die Gewalt?

Keine Studie hat genau herausgefunden, warum das Gesundheitswesen ein so hohes Maß an Gewalt aufweist. Experten verweisen auf die einzigartige Beziehung zwischen Patienten und Pflegekräften, die es in anderen Branchen so nicht gibt. „Wenn Sie sich in einer Bar wie ein Narr benehmen, wirft man Sie raus, aber wenn Sie sich wie ein Narr im Krankenhaus benehmen, müssen Sie noch behandelt werden“, sagt Alan Butler, Senior Vice President for Healthcare Security bei HSS, einem in Denver, Colorado ansässigen Unternehmen, das Krankenhäusern und anderen Gesundheitsorganisationen Programme zur Gesundheitssicherheit anbietet.

Auch wenn sich nach dem tragischen Vorfall in Berlin Kliniken nun einmal mehr fragen, wie sie ihre Mitarbeiter und Patienten besser schützen können, gibt Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), zu bedenken, der tödliche Anschlag auf den Chefarzt Fritz von Weizsäcker sei eine Extremsituation, die sich in einer offenen Gesellschaft niemals gänzlich ausschließen lasse. „Im Alltag unternehmen die Verantwortlichen in den Kliniken das Menschenmögliche, um den Schutz der Beschäftigten und Patienten zu gewährleisten“, betont er. 

Ein Leben für die Medizin

Fritz Eckhart Freiherr von Weizsäcker wurde am 20. Juli 1960 in Essen geboren, als Sohn des ehemaligen Bundespräsidenten und West-Berliner Bürgermeisters Richard von Weizsäcker. Von 1979 bis 1987 studierte er in Bonn und Heidelberg. Anschließend ging er für ein praktisches Jahr in die USA. 2003 wurde er Professor für Innere Medizin an der Universität Freiburg. Weitere Stationen von Weizsäckers waren die Harvard Medical School und das Universitätsspital Zürich.

Seit 2005 war er Chefarzt der Abteilung Innere Medizin I an der Schlosspark-Klinik in Berlin-Charlottenburg. Von Weizsäcker forschte auf dem Gebiet der Hepatologie, der Physiologie und Pathologie von Leber und Gallenwegen und der molekularen Virologie. Zu seinen Behandlungsschwerpunkten zählten infektiöse Leberentzündungen wie Hepatitis B oder C, Fettleber-Hepatitis oder Fettleber. Er war Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie in Berlin und Brandenburg e. V. und im Vorstand von Gesundheitsstadt Berlin. Von Weizsäcker hinterlässt 3 Kinder und seine Frau.

 

Kommentar

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