Zur Frage, inwieweit soziale Medien als Hilfs- bzw. Informationsmedium bei sexuell übertragbaren Erkrankungen (sexually transmitted infections, STD) genutzt werden, existieren zahlreiche Untersuchungen. Nur widmete sich bislang keine dem Thema, ob die Suchenden dort auch eine Diagnose erhalten. Diese Anfragen sind jedoch in letzter Zeit sprunghaft angestiegen. Wie Dr. Alicia L. Nobles vom Department of Medicine der University of California, San Diego (UCSD), und ihre Kollegen jetzt in JAMA berichten, waren vor allem diagnostische Zweitmeinungen gefragt [1].
Chats auf Reddit analysiert
Die Forscher untersuchten Chats und Forenkommunikation auf der vor allem in den USA häufig genutzten Plattform Reddit. Sie konzentrierten sich auf einen großen „Subreddit“, der ein Forum zu STD darstellt, r/STD genannt. Die User teilen – wie es im Forum heißt – „Erfahrungen, Sorgen und Fragen“ sowie Fotos.
Ein Subreddit ist eine Peer Group, jedoch kein Online-Tool wie z.B. CrowdMed, bei dem Personen mit medizinischem Hintergrund ihre Meinungen abgeben können. „Um eine Crowd-Diagnose handelt es sich, wenn eine Person sich auf sozialen Medien an Fremde wendet, um eine Diagnose zu erhalten“, sagte Dr. John Ayers, ebenfalls UCSD und mit Nobles Co-Autor der Studie, gegenüber Medscape.
Ein Beispiel aus dem Forum: „Hilfe! Was ist das denn? Im letzten Monat habe ich diese Papeln auf meinem Hintern in der Nähe meiner Vagina bekommen. Normalerweise ist meine Haut sehr rein. Ist das Herpes?!“
Man weiß allgemein noch nicht viel über die gesundheitsbezogene Beratung durch Peers in den sozialen Medien. Aufgrund des öffentlichen Interesses entschieden sich die Untersucher dafür, den Blick auf das Thema Geschlechtskrankheiten zu richten.
„Wir gehen immer davon aus, dass sich jeder mit seinen Gesundheitsfragen an Dr. Google wendet. Aber die Menschen wollen auch ein Gefühl der Verbindung“, erklärt Nobles. „Der Grund, warum Social-Media-Seiten so beliebt sind, ist, weil sie echte Interaktionen mit echten Menschen bieten.“ Aus den gleichen Gründen entschieden sich einige dafür, auf diesen Plattformen auch medizinische Hilfe zu suchen.
Systematische Analyse von Posts im STD-Forum
Nobles Team wertete alle Posts vom Start der r/STD-Seite im November 2010 bis zum Februar 2019. Drei der Mitarbeiter kodierten Antworten auf Fragen aus einer Stichprobe von 500 Beiträgen:
Wurde in dem Post nach einer Crowd-Diagnose gesucht?
Wenn ja, ging es dabei um eine Zweitmeinung, nachdem die betroffene Person einen Arzt konsultiert hatte?
Wurde ein Bild gepostet?
Hat die Person eine Antwort erhalten?
Wie lange hat es gedauert, bis die erste Antwort kam?
Hockeyschläger-Kurve auch beim STD-Interesse
Das Diagramm des zeitlichen Trends für die Veröffentlichung auf r/STD ähnelt der berühmten Hockeyschläger-Kurve der globalen Klimaerwärmung: Sie geht steil nach oben.
Von 16.979 Posts stammten 8 aus November und Dezember 2010, 2.478 waren es im gesamten Jahr 2017, 3.375 in 2018 und 908 bereits im Januar und Februar 2019. Die Zahl der monatlichen Beiträge lag 2012 bei knapp 100, 2018 bei 200 bis 300 und im Januar 2019 bereits bei 500.
Wie die Autoren berichten, suchen Menschen Hilfe. In 58% der Fälle wünschte man sich eine Crowd-Diagnose, und 31% der User schickten ein Bild von einem beteiligten Hautareal mit.
87% der Posts, in denen um eine Crowd-Diagnose gebeten wurde, erhielten eine Antwort. Die durchschnittliche Anzahl der Antworten betrug 1,7 und die durchschnittliche Zeit bis zur ersten Antwort betrug 3,04 Stunden; 79% der Anfragen wurden innerhalb eines Tages beantwortet.
„Wir fanden heraus, dass 20% der Anfragen zur Crowd-Diagnose gestellt wurden, nachdem es bereits eine ärztliche Diagnose gab. In einem Fall war ein Patient HIV-positiv getestet worden, wollte aber von der Crowd hören, dass der Arzt sich irren muss“, sagte Ayers. Die Untersucher gingen davon aus, dass die ärztliche HIV-Diagnose korrekt war.
Das Fazit der Autoren lautete: „Es gab viele Anfragen in Richtung einer Crowd-Diagnose, wobei die meisten User innerhalb weniger Stunden eine Antwort erhielten, und oft ging es dabei um das Einholen einer Zweitmeinung nach Erhalt einer Erstdiagnose durch einen Arzt“.
Nutzen von Crowd-Diagnosen maximieren
Crowd-Diagnosen könnten sich im Gesundheitssystem zu einem wichtigen Instrument entwickeln, vermutet Ayers. „Wir könnten ermitteln, über welche Krankheiten und welche Arten von Informationen die Menschen bereit sind zu sprechen bzw. zu schreiben und dann evidenzbasierte Ressourcen aufbauen, um diesen Bedürfnissen zu entsprechen. Niemand hätte erwartet, dass die Menschen so bereitwillig Bilder von ihren Intimregionen in den sozialen Medien teilen, um dann möglicherweise die Diagnose einer STD zu erhalten“, erklärte er weiter.
Aber eine Diagnose durch Laien-Peers birgt Risiken. Ayers schlug vor, dass Mediziner mit Social-Media-Unternehmen zusammenarbeiten könnten, um die Verbreitung von Falschinformationen oder Fehldiagnosen zu verhindern.
„Social-Media-Plattformen könnten so verbessert werden, dass sie zuverlässigere und auch justitiable Crowd-Diagnosen ermöglichen. Zum Beispiel könnten Experten die Anfragen nach Crowd-Diagnosen moderieren. So könnte Social Media zu einem Informationsmedium werden, das die Öffentlichkeit mit der professionellen Medizin verbindet“, sagte Ayers. Damit würde sich r/STD mehr in Richtung des amerikanischen CrowdMed-Modells bewegen.
CrowdMed nutzt die Schwarmintelligenz effektiver als Reddit
Aber für Dr. Hardeep Singh vom Michael E. DeBakey Veterans Affairs Medical Center und am Baylor College of Medicine in Houston, Texas, unterscheidet sich der STD-Subreddit erheblich von CrowdMed. Im Jahr 2016 führte er selbst eine Studie über CrowdMed, die im Journal of Medical Internet Research veröffentlicht wurde.
„CrowdMed ist eine organisierte Plattform für Crowd-Diagnosen, bei der sich Menschen anmelden, um anderen medizinische Gutachten zur Verfügung zu stellen. Gegen eine geringe Gebühr beantworten die Patienten anonym eine Vielzahl medizinischer Fragen und laden relevante Testergebnisse und Bilder hoch. Es folgt dann eine Liste der möglichen Diagnosen in abnehmender Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit, was durch Vorhersagealgorithmen bestimmt wird“, erklärte Singh.
Die Nutzer von CrowdMed haben in der Regel noch keine Diagnose für ihre Beschwerden. Manche unter ihnen haben bereits 5 oder mehr Ärzte konsultiert. Singhs Studie ergab, dass 208 der 387 (58%) teilnehmenden Personen, die sich um die Diagnosefindung bemühten, im Gesundheitswesen gearbeitet oder studiert hatten, darunter 36 Ärzte und 56 Medizinstudenten.
Misstrauen gegenüber Ärzten ein Beweggrund vieler User?
„In diesem JAMA-Artikel geht es wohl darum, dass Menschen ihre persönlichen Daten teilen oder sehr persönliche Bilder zeigen, um eine schnelle Meinung von den Social-Media-Peers zu erhalten, die möglicherweise ähnliche Probleme hatten. Während mit Blick auf die Selbsthilfe die Peers in solchen Gruppen wertvoll sein können, wird hier einer gewissen Wildwest-Diagnostik Tür und Tor geöffnet, die viel informeller erscheint, als CrowdMed“, sagte Singh.
Als Motive der r/STD-User nennt Singh die Kosten und die Verfügbarkeit medizinischer Hilfe, ein Misstrauen gegenüber Diagnosen von Ärzten sowie die Geschwindigkeit der Antworten. „Die Befürchtung, lange auf einen Arzttermin warten zu müssen, kann unerträglich werden, wenn es auch eine möglicherweise richtige Antwort eines Fremden gibt, der die eigene Vermutung bestätigt“, sagt Singh.
Mögliche gesundheitliche Schäden können durch Fehldiagnosen und durch eventuell verzögerten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen entstehen. „Solche Plattformen, bei denen es um eine zweite Meinung geht, sollten evaluiert und validiert werden, so wie wir es auch bei CrowdMed empfohlen haben, sagte Singh.
Die Kritik an der Studie lautet, dass sie nur eine Plattform für ein einziges medizinisches Thema untersucht und dass die Merkmale der Teilnehmer, die Richtigkeit der Diagnosen und die Frage, ob Personen den Empfehlungen gefolgt sind, nicht erfasst wurden.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Einer gewissen Wildwest-Diagnostik Tür und Tor geöffnet“: Ärzte halten wenig von STD-Foren im Internet - Medscape - 19. Nov 2019.
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