Personalisierung eines Medikaments fast in Rekordzeit: Gentherapie verlangsamt seltene Form von Kinderdemenz

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

15. November 2019

Für ein Mädchen mit sogenannter Kinderdemenz sind in weniger als einem Jahr die auslösenden Mutationen identifiziert und eine maßgeschneiderte Gentherapie erarbeitet, geprüft, zugelassen und angewandt worden. Die epileptischen Anfälle wurden seltener, der geistige Abbau schien sich zu verlangsamen. Diese außergewöhnliche Personalisierung eines Medikaments und die Bereitstellung fast in Rekordzeit könnten eine Blaupause für andere seltene Erkrankungen liefern.

Weltweit sind bis zu 400 Millionen Menschen an einer ‚Orphan Disease‘ erkrankt. Ausgefeilte Techniken der Gensequenzierung haben die Diagnosen revolutioniert, die Therapien jedoch hinken noch hinterher. Zu zahlreich sind die unterschiedlichen Störungen – mehr als 7.000 hat die Organisation ‚Global Genes‘ auf ihrer Website aufgelistet. Im Kontrast dazu betrifft eine dieser Krankheiten meist nur wenige Patienten, manchmal nur einen einzigen, erläutern Dr. Jinkuk Kim vom Boston Children’s Hospital und seine Kollegen im New England Journal of Medicine  [1].

Mila machte Rückschritte, statt klüger und geschickter zu werden

Von Mila hätten sie über einen Facebook-Post erfahren, so schildert es ein Bericht der American Chemical Society (ACS). Das Mädchen litt an einer tödlich verlaufenden neurodegenerativen Ceroidlipofuszinose (CLN), die auf einer Fehlfunktion der Lysosomen beruht.

Als die Ärzte die 6-Jährige kennenlernten, hatten bereits Erblindung, motorische, sprachliche und soziale Regression eingesetzt. Immer wieder stolperte sie, ihre Bewegungen waren ungeschickt, ihre Worte kaum verständlich. Den Eltern waren die ersten Anzeichen bereits 3 Jahre zuvor aufgefallen, doch inzwischen hatte sich der Verfall beschleunigt. Eine Klinikaufnahme wurde bald unvermeidlich, weil das Kind immer häufiger stürzte und kaum noch schlucken konnte.

Die Magnetresonanztomografie (MRT) zeigte eine noch milde Atrophie von Groß- und Kleinhirn, das 24-Stunden-EEG mehrere generalisierte, noch subklinische Anfälle. Eine Hautbiopsie ergab die typischen lysosomalen Einschlüsse im Wirbelmuster eines Fingerabdrucks. Bei Tests auf verdächtige Gen-Kandidaten stellte sich eine Punktmutation in einer Kopie der CLN7-DNA heraus, doch kann die Krankheit nur ausbrechen, wenn im Gegenstrang ebenfalls eine Veränderung vorliegt – aber die Forscher konnten nichts finden.

Wo die 2. Mutation lag, war zunächst ein Rätsel

Also sequenzierten sie das gesamte Genom von Mila selbst sowie zum Abgleich auch das von ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder. Denn sie vermuteten, die 2. Mutation liege in der ‚dunklen Materie‘, jenen 99% des Erbmaterials, das nicht für Proteine kodiert. Tatsächlich kamen sie dem Übel auf die Spur: Es war ein Retrotransposon, das Überbleibsel eines Retrovirus, wie sie zu Tausenden im menschlichen Genom vorkommen. Sie heißen auch mobile Elemente, weil sie per ‚copy and paste‘ an einen neuen Ort springen können.

 
Zu einem solchen Einschub gibt es weder einen Hinweis in der Literatur, noch taucht er in einer speziellen Datenbank auf. Dr. Jinkuk Kim und Kollegen
 

Bei Mila (und ihrer Mutter) hatte sich ein solches DNA-Stück ins CLN7-Gen eingefügt. Als Störimpuls brachte es offenbar das Splicing der frisch abgelesenen Messenger-RNA zum Abbruch, jenen Prozess, bei dem überflüssige Abschnitte herausgeschnitten und die benötigten Teile zusammengestückelt werden. Damit verhinderte das Retrotransposon die Umsetzung (Translation) in ein funktionierendes CLN7-Protein. Ein Ausnahme-Defekt: „Zu einem solchen Einschub gibt es weder einen Hinweis in der Literatur, noch taucht er in einer speziellen Datenbank auf“, berichten die Forscher.

Ein früheres Antisense-Oligonukleotid diente als Vorbild

Wie den Fehler beheben? Nun hatte die FDA zufällig ein paar Monate zuvor ein Antisense-Oligonukleotid namens Nusinersen (Spinraza®) zur Reparatur eines falschen Splicings zugelassen: für eine weitere seltene neurodegenerative Krankheit, die spinale Muskelatrophie. Das Medikament war in seiner Basenfolge so konstruiert, dass es die kritische Mutation abdeckt.

Das brachte Kim und seine Kollegen auf die entscheidende Idee: Vielleicht ließe sich der problematische Eindringling bei Mila ebenfalls mit einem Oligonukleotid blockieren und so das Splicing korrigieren? Die Herstellung könnte relativ schnell gehen, wenn man das gleiche chemische Grundgerüst wie Nusinersen wählen würde. Inzwischen hatte Milas Mutter das Fundraising Mila’s Miracle Foundation gestartet, um das Vorhaben zu finanzieren.

Also begann das Team, Oligonukleotide zu entwerfen und sie in Milas Fibroblasten zu testen. Das wirksamste, 22 Nukleotide lang, gewährleistete zumindest teilweise ein intaktes Splicing. Parallel besserte sich die Lysosomenfunktion – im Elektronenmikroskop daran erkennbar, dass Vergrößerung, Vakuolenbildung, Autofluoreszenz und falsch lokalisierte Enzymaktivität zurückgingen. Die Forscher nannten den Wirkstoff Milasen.

Vor der klinischen Anwendung musste er allerdings noch eine Hürde nehmen: Die FDA verlangte eine 3-monatige Sicherheitsprüfung mit Ratten.

FDA machte Zugeständnisse bei der Zulassung

Mittlerweile jedoch ging es Mila immer schlechter. Ohne Hilfe konnte sie kaum noch gehen, zur Nahrungsaufnahme war sie wegen ihrer Schluckstörung auf eine Magensonde angewiesen. Ihr ohnehin schon begrenzter Wortschatz verkümmerte vollständig. Am schlimmsten waren die jetzt manifesten Krampfanfälle: täglich bis zu 30 von jeweils mehr als 1 Minute Dauer. „Trotzdem war sie lebhaft geblieben, reagierte auf Anregungen ihrer Familie und freute sich, ihre Lieblingsgeschichten und -lieder zu hören“, berichten die Ärzte.

Jedenfalls war klar: Bald wäre der Wettlauf gegen die Zeit verloren, die FDA forderte zu strenge Auflagen. Auf ein Bittschreiben hin machte die Behörde Zugeständnisse, zumal bei den Ratten schwere Nebenwirkungen bisher ausgeblieben waren.

Die Behandlung durfte bereits nach einem Monat beginnen. Dabei orientierten sich die Ärzte wegen der vielen Parallelen an den Erfahrungen mit Nusinersen. Die Applikation erfolgte ebenfalls durch Bolusinjektionen in den Liquor, alle 2 Wochen mit langsam steigenden Mengen.

Eindeutige Besserung bei den Krampfanfällen

Intrathekal nahmen die Milasen-Konzentrationen proportional zur Dosis zu, blieben systemisch jedoch gering. Gravierende unerwünschte Folgen traten bei dem Kind nicht auf. Zwar ging der Hirnschwund unaufhaltsam weiter, wie MRT-Aufnahmen deutlich machten, doch schienen sich die neuropsychologischen Fähigkeiten nicht zu verschlechtern. Eine Skala zur Beurteilung von Kommunikation, Alltagsleistungen und sozialem Verhalten (Vineland Adaptive Behavior Scales) zeigte in 5 der 11 Kategorien eine Besserung, 2 blieben gleich, 4 wurden schlechter.

 
Immerhin ist nun erwiesen, dass dieser Ansatz generell funktioniert. Dr. Jinkuk Kim und Kollegen
 

Einen durchschlagenden Erfolg konnten die Ärzte bei der Epilepsie verbuchen: Die Anfälle gingen auf 0 bis 20 pro Tag zurück und dauerten höchstens 1 Minute, wobei allerdings die Antikonvulsion mit Topiramat beibehalten wurde.

Milas kritischer Zustand habe rasches Handeln erfordert, betonen die Wissenschaftler und stellen dabei klar: „Für andere Kinder mit Ceroidlipofuszinosen eignet sich das Medikament wegen seiner Spezifik zwar leider nicht, aber immerhin ist nun erwiesen, dass dieser Ansatz generell funktioniert.“ Zugleich raten sie: „Ähnliches sollte nur unter lebensbedrohenden Umständen erwogen werden.“

Hunderte von verzweifelten Familien schicken Anfragen

Seit sie das Projekt 2018 bei einem Kongress vorgestellt haben, werden sie dem ACS-Artikel zufolge von Anfragen überhäuft: Familien, in denen ein Angehöriger an einer seltenen Krankheit leidet, erkundigen sich, ob eine solche personalisierte Therapie ihm ebenfalls helfen könnte.

Den meisten müssen die Forscher die Hoffnung nehmen, doch zumindest für einige entwickeln sie derzeit Antisense-Oligonukleotide, darunter gegen eine rare Form der Epilepsie sowie eine neurologische Störung namens Ataxie-Telangiektasie – beide sollen noch in diesem Jahr zur Verfügung stehen.

Zulassungsbehörden: Ethische Probleme durch Ein-Patienten-Studien

Wie nachhaltig Milas Fall alle Beteiligten, besonders die Zulassungsbehörden, mit ethischen und gesellschaftlichen Problemen konfrontiert hat, das schildern zwei FDA-Verantwortliche in einem Editorial: Dr. Janet Woodcock und Dr. Peter Marks, beide Direktoren von Abteilungen für Arzneimittel-Evaluation und -Forschung [2].

Das Thema ist deshalb so brisant, weil Milasen längst kein Einzelfall mehr ist. Bereits in diesem Sommer habe die FDA eine andere Ein-Patienten-Studie (N-of-one) mit einem Antisense-Oligonukleotid genehmigt, für eine Frau mit einer schweren Variante der amyotrophen Lateralsklerose. Dieses Medikament allerdings könnte eines Tages anderen Patienten mit einem ähnlichen Genmuster helfen.

Milasen – Prototyp individueller Orphan-Disease-Medikamente

Mehr und mehr werden Forscher zuerst die spezifischen Mutationen, dann die Stoffwechselentgleisungen seltener Krankheiten aufklären und so innovative Behandlungen ermöglichen, prognostizieren Woodcock und Marks. Antisense-Oligonukleotide stellen nur die Schrittmacher dar, andere individualisierte Zell- und Gentherapien werden bald folgen.

 
Welche Evidenz brauchen wir in Ein-Personen-Situationen für ein neues Medikament, bevor wir die Anwendung wagen können? Dr. Janet Woodcock und Dr. Peter Marks
 

„Welche Evidenz brauchen wir in Ein-Personen-Situationen für ein neues Medikament, bevor wir die Anwendung wagen können?“, lautet eine zentrale Frage, die den FDA-Mitarbeitern Kopfzerbrechen bereitet.

Und weiter: Wie überzeugend sollten die Daten zur Wirksamkeit sein? Welche Dosierung, welche Art und welche Abstände der Applikation sind am günstigsten? Wie stark dürfen die Dringlichkeit und die Zahl der Patienten die Entscheidung beeinflussen?

Unentschieden ist weiterhin, welche Kriterien als Erfolg gelten können, ob Vorher-Nachher-Vergleiche ausreichend sind oder inwieweit ein Patient einen Präzedenzfall für andere schafft.

Für die Patienten ist eine Gentherapie meist die einzige Chance

Irritationen stiftet es außerdem, dass die Patienten und ihre Familien bei dem Projekt notgedrungen eher Mitarbeiter sind als traditionelle Studienteilnehmer. So ist es naheliegend, dass sie eine Stabilisierung oder gar Besserung wahrnehmen, wo objektive Methoden wenig hergeben. Daher sollten die Ärzte, am besten zusammen mit einem Ethiker, schon im Vornhinein diskutieren, was sie als effektiv werten und sich zu einem Stopp durchringen, wenn die Vorgaben unerfüllt bleiben.

 
Wenn solche individualisierten Therapien üblich und manche erfolgreich werden, bleibt auch die Frage aktuell, wie man die Zulassung regulieren kann, ohne die Entwicklung aufzuhalten. Dr. Janet Woodcock und Dr. Peter Marks
 

Damit reißt die Kette der Unsicherheiten noch nicht ab. Wie stark verkürzt darf die toxikologische Prüfung sein, bis eine Zulassung zu rechtfertigen ist? Ab welchem Punkt darf man behaupten, dass ein Wirkstoff sicher ist?

Die FDA-Spezialisten sehen voraus: „Wenn solche individualisierten Therapien üblich und manche erfolgreich werden, bleibt auch die Frage aktuell, wie man die Zulassung regulieren kann, ohne die Entwicklung aufzuhalten.“

Der Wirkstoff muss selbst bei tödlichen Krankheiten sicher sein

Die präklinische Evaluation von Milasen sei das absolute Minimum dessen gewesen, was in der medizinischen Forschung erlaubt sein dürfte. Selbst bei schnell fortschreitenden Erkrankungen mit desolater Prognose seien schwere Komplikationen oder vorzeitige Todesfälle nicht akzeptabel, betonen die Kommentatoren. Deshalb dürfe man nicht ausblenden, wie die Beteiligten mit der Enttäuschung zurechtkommen, wenn die Therapie abgebrochen werden muss.

Nicht zuletzt sei wegen der immensen Kosten die Finanzierung ein Kernpunkt. Für Woodcock und Marks ist abzusehen: „In den kommenden Monaten wird sich die FDA mit diesem Thema beschäftigen, unter Mitwirkung von Wissenschaftlern, Patientensprechern, pharmazeutischer Industrie und anderen Interessenvertretern.“

Ceroidlipofuszinosen (Batten-Krankheit)

Die bei Mila vorliegende neuronale Ceroidlipofuszinose CLN7 gehört zu einer Gruppe noch unheilbarer Lysosomen-Speicherkrankheiten. Wegen des Symptombeginns meist zwischen dem 1. und 8. Lebensjahr sowie dem fortschreitenden geistigen Abbau ist umgangssprachlich auch der Name Kinderdemenz geläufig. Weitere Kennzeichen sind Epilepsie sowie Erblindung durch Degeneration der Netzhaut. Auf genetischer Grundlage wurden 10 Typen klassifiziert, deren Nummerierung – CLN1 bis CLN10 – die historische Reihenfolge der Entdeckung widerspiegelt.

Die meist autosomal-rezessiv vererbten Erkrankungen sind mit einer Rate von maximal 1 pro 30.000 Neugeborenen recht selten. Die jeweils zugrunde liegende Mutation sabotiert die Bildung von Enzymen, die bei der ‚Müllabfuhr‘ der Zellen mitwirken, vor allem in Gehirn und Retina. Folglich sammeln sich darin die Abfallhaufen nicht abgebauter Fette und Proteine, die charakteristischen wachsartigen Ceroidlipofuszine. Das hat zur Folge, dass die Zellen absterben. Welchen Stoffwechselschritt die defekten Enzyme im Einzelnen katalysieren, etwa die Tripeptidyl-Peptidase, ist noch weitgehend unklar.

In der größten bisher publizierten Fallserie zu CLN7 lag der Symptombeginn im Mittel bei 3,3 Jahren, 7 Patienten starben im Mittel mit 11,5 Jahren. Auslöser ist eine Mutation im MFSD8-Gen. Das davon abgeleitete MFSD8-Protein ist regulär in die Lysosomenmembran eingebettet und Mitglied einer Familie von Molekülpumpen (major facilitator superfamily of secondary active transporter). Doch was MFSD8 befördert, ist noch nicht identifiziert.

 

Kommentar

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