Handeln ist besser als Nichtstun – diese Maxime führt zur unnötigen Diagnostik und Therapie. Welche Lösungen gibt es?

Christian Beneker

Interessenkonflikte

13. November 2019

Choosing Wisely – mehr Augenmaß in der medizinischen Versorgung könnte Patienten schützen und die Kassen schonen. Das ist eines der Thesen der jüngsten Studie der Bertelsmann Stiftung: „Überversorgung – eine Spurensuche“ [1].

„Um Patienten besser vor Überversorgung zu schützen, ist Choosing Wisely ein vielversprechender Ansatz“, sagt Brigitte Mohn von der Bertelsmann-Stiftung in einer Pressemeldung. „Denn hier setzen sich Ärzte gegen Überversorgung und für bessere Gespräche mit ihren Patienten ein.“ Das Konzept sei in anderen Ländern bereits erfolgreich eingeführt worden und finde immer mehr Beachtung. „Auch in Deutschland sollte es im Sinne des Patientenwohls stärker unterstützt werden.“

Derzeit arbeiten Ärzte und Patienten eher daran, die Medizin mit Augenmaß zu verhindern, denn sie folgen ganz anderen Kriterien, als die gemeinsame, kluge Entscheidung es verlangt. Das zeigen 24 Interviews mit Patienten und15 mit Ärzten, die von der Bertelsmann-Stiftung parallel zur Studie veröffentlich wurden. So haben Experten des Rheingold-Institutes bei ihren Gesprächspartnern eine Reihe typischer „Denkmuster“ festgestellt, die „bei der Beurteilung medizinsicher Maßnahmen wirksam sind“, so die Auswertung der Interviews. Diese Einsichten sind umso wichtiger, weil Ärzte „etwa 80 Prozent der Gesundheitskosten auslösen“.

 
Um Patienten besser vor Überversorgung zu schützen, ist Choosing Wisely ein vielversprechender Ansatz. Brigitte Mohn
 

Viele Therapien sind überflüssig

Das Göttinger IGES-Institut hat für die Bertelsmann Stiftung die Studie zur Überversorgung geschrieben und viele eklatante Fälle der „Versorgung über die Bedarfsdeckung hinaus“ festgestellt. So würden 90% der jährlich rund 70.000 Schilddrüsen-OPs ohne bösartige Veränderungen am Organ vorgenommen. „Mit besserer Diagnostik könnten viele dieser Operationen vermieden werden“, hieß es.

Magensäureblocker werden in 70% aller Fälle „ohne korrekte Indikation“ verschrieben. Von den 27.000 Defibrillatoren, die jährlich Patienten eingesetzt werden, war der Indikator der „leitlinienkonformen Indikation“ in 11% „auffällig“, also nicht eindeutig.

Viele Eingriffe wären durch etwa medikamentöse Behandlung vermeidbar. Jährlich werden die Rückenschmerzen von 49.000 Versicherten zu früh oder gar unnötig per Bildgebung diagnostiziert – dabei führt die Bildgebung bei unspezifischem Rückenschmerz nicht weiter, sondern steigere die Gefahr von Operationen mit fragwürdigem Nutzen, so die Studienautoren.

Dabei erstaunt: Viele medizinische Leistungen, die zu oft erbracht werden, zeigen „eine überraschend gute Abdeckung mit Choosing-Wisely-Empfehlungen der jeweiligen Fachgesellschaften“, so die Autoren des Berichts. Das Handwerkszeug wäre da, aber es nehmen allzu wenige Ärzte zur Hand. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt Ärzten denn auch, mit Choosing Wisely selber gegen die Überversorgung vorzugehen und zitieret Prof. Dr. Wendy Levinson, Gründerin und Leiterin von „Choosing Wisely International“: „Wir gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern auf Überversorgung entfallen.“

 
Wir gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern auf Überversorgung entfallen. Prof. Dr. Wendy Levinson
 

Ursachen der Überversorgung

Die wichtigsten Denkmuster von Ärzten und Patienten, die zu einer Überversorgung führen:

  • „Viel hilft viel.“ Das glauben jedenfalls Patienten. Je öfter und genauer der Arzt hinschaue, umso besser sei es, so die Überzeugung. Mögliche Schäden, Risiken oder Nachteile „sind kaum präsent“, ergaben die Interviews. Bei Physiotherapien etwa werde ein „Zuviel“ überhaupt nicht für möglich gehalten. Ängste bei den Patienten erhöhen den Wunsch nach „mehr“.

  • „Neuer und moderner ist besser“: Neue Behandlungsmethoden werden sowohl von Ärzten als auch von Patienten tendenziell auch als bessere Behandlungsmethoden beurteilt. Mitunter übten die Patienten deshalb auf ihre Ärzte Druck aus. „So glauben gesetzlich Versicherte zum Beispiel, sie bekämen „alte“ Mittel oder Maßnahmen nur aus Sparzwängen und nicht aus der medizinisch begründeten Überzeugung der Ärzte heraus“, ergaben die Interviews.

  • „Handeln ist besser als Nichtstun.“ Statt abzuwarten, tendieren Ärzte dazu, etwas gegen die Krankheit zu unternehmen. „Durch aktives Handeln ergibt sich leichter die moralische Rechtfertigung, man habe „wenigstens alles versucht, um beispielsweise schwere Erkrankungen zu entdecken oder zu bekämpfen“, heißt es in der Untersuchung. Sich gegen die Wünsche der Patienten anders zu verhalten, ist indessen gar nicht so einfach, wie ein Kollege berichtet: „Man kommt als Arzt immer auch in Zwänge: Dann macht man mal eine kleine Blutabnahme und guckt, ob sich die Entzündung erhöht hat oder wie akut es aussieht. Die Patienten sind dann oft erleichtert: Es passiert erst einmal was. Toll! Es wird etwas gemacht!“ Das geduldige Abwarten fällt den Patienten auch deshalb schwer, weil PC und Smartphone alles Mögliche im Handumdrehen liefern. Warum ist dann der Arzt so „langsam“? Das Warten in Ungewissheit können die Patienten offenbar nur schwer akzeptieren. Aber auch die Ärzte fürchten, durch unterlassene Diagnostik Erkrankungen zu übersehen, „mit der Folge möglicher Schuldgefühle und/oder juristischer Klagen“. Die Studie spricht hier von „defensivmedizinischen Vorsichtsmaßnahmen“.

  • „Gegenseitige Erwartungen“: Die Erwartungshaltung von Patienten sei ein „direkter Treiber“ für Überversorgung durch Ärzte, so eine Schlussfolgerung aus den Interviews. Bestimmte Untersuchungen werden von Patienten energisch eingefordert: Blutbild, Laborttests oder bildgebende Untersuchungen: „Dann habe ich mir eine Überweisung fürs MRT geholt“ – solche oder ähnliche Patienten-Äußerungen dürften viele Ärzte kennen. Die meisten Patienten wollen aber etwas anders als eine ganz bestimmte Untersuchung. Sie wollen Zuwendung. Doch aufgrund fehlender Zeit münzen Ärzte ihre Fürsorge mitunter in ein Rezept um. So stabilisieren sie den emotionalen Zustand des Patienten, ohne lange Gespräche führen zu müssen – und begünstigen die Überversorgung.

Was tun?

Offen bleibt aber, wie die Empfehlung zum Choosing Wisely die Macht der Gewohnheiten brechen soll, die sich anhand der Interviews gezeigt hat. Und Choosing Wisely allein helfe nicht gegen die Überversorgung, so Eckhard Volbracht von der Bertelsmann-Stiftung, „kann aber einen Beitrag gegen die Überversorgung leisten. Auf Dauer muss man aber mit vielen Mosaiksteinen arbeiten.“

Allein die Auseinandersetzung medizinischer Fachgesellschaften mit der Thematik, die Erstellung der Listen und die nachfolgende Diskussion und Verbreitung im Versorgungsalltag könnten dazu beitragen, für Überversorgung zu sensibilisieren und sie zu reduzieren, meint Volbracht. Die Fachgesellschaften und Krankenkassen sollten zum Beispiel auch mit Benchmarks arbeiten. Da bedeute, Ärzten vor Augen zu führen, wie häufig etwa MRT-Untersuchungen in anderen Arztgruppen oder Regionen verordnet würden. „Man wird an vielen Stellschrauben drehen müssen, um ein hoch komplexes System in eine neue Richtung zu steuern.“

 

Kommentar

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