Berlin – Immer mehr Menschen weltweit sind auf der Flucht, weil sie sich durch äußere Umstände wie bewaffnete regionale Konflikte, Verfolgung oder Vertreibung gezwungen fühlen, ihre Heimat zu verlassen. Dies ist für sie mit vielfältigen und oft enormen psychischen Belastungen verbunden – nicht nur vor ihrer Flucht, sondern vor allem auch unterwegs und dann erneut im Land, in dem sie aufgenommen werden.
Über die damit insbesondere für die Gesundheitswesen der Aufnahmeländer verbundenen Herausforderungen und Lösungsansätze diskutierten Experten auf dem World Health Summit [1].
Besonders häufig: Depressionen und PTSD
Weit oben auf der Liste der wichtigsten seelischen Störungen von Geflüchteten stehen Depressionen und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). „Von den etwa 4 Millionen zumeist aus Syrien in die Türkei geflohenen Menschen ist bis zu jeder Zweite von einer PTBS betroffen“, berichtete Prof. Dr. Selma Karabey von der Universität Istanbul, Türkei.

Dr. Miriam Orcutt
Allerdings zeigen unterschiedliche Studien große Variationsbreiten bei diesem und anderen psychischen Krankheitsbildern. Häufig bei Geflüchteten vorkommende Gefühle sind Trauer, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit, Heimweh, Hilflosigkeit, Entfremdung, aber auch Aggressionen sowie Scham- und Schuldgefühle.
Zu den besonders vulnerablen Gruppen zählen:
Kinder, die Gewalt erfahren haben oder von ihren Familien getrennt wurden,
Menschen, die sexuelle Gewalt erlebten,
Patienten mit körperlichen oder geistigen Behinderungen und
ältere Menschen.
Äußerst große Belastungen für die seelische Gesundheit Geflüchteter können die oft viele Monate oder gar Jahre dauernden Aufenthalte in offiziellen Flüchtlingslagern oder inoffiziellen Camps darstellen, bevor diese Menschen eventuell ein definitives Aufnahmeland gefunden haben. „Nicht nur, dass es in diesen Lagern meist kaum oder keinen Zugang zu Ausbildung und Arbeit gibt. Oft mangelt es bereits massiv an sanitären Einrichtungen und elementarster Gesundheitsversorgung“, schilderte Dr. Miriam Orcutt vom University College London (UCL) Institute for Global Health die Situation.
Das habe Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit, das psychosoziale und emotionale Wohlbefinden.
Eine Toilette für 200 Menschen
Als Beispiel für die Zustände in völlig überfüllten Flüchtlingslagern nannte die auf dem Gebiet der Migrationsgesundheit forschende Ärztin die griechischen Inseln und speziell Lesbos, wo sich 200 Menschen eine einzige Toilette und 500 eine Dusche teilen müssten. „Die in der Postmigrationsphase zu beobachtenden negativen Einflüsse auf die seelische Gesundheit können noch problematischer sein als die Schwierigkeiten, die diese Menschen ursprünglich zur Flucht geführt haben“, gab Orcutt zu bedenken.
Mögliche Auswirkungen etwa bei Kindern seien aggressives Verhalten, Kommunikationsstörungen (Mutismus), Depression, Resignations-Syndrom und vermehrte Suizidversuche.
In manchen Lagern wie im Libanon müssten Flüchtlinge seit Jahren immer noch in inoffiziellen Camps in Zelten leben. Deren Gesundheitsversorgung werde zusätzlich dadurch erschwert, dass vor Ort tätige Hilfsorganisationen wenig finanzielle Unterstützung bekämen.
„Die seelische Gesundheit Geflüchteter steht mit der körperlichen Gesundheit und der Lebensqualität dieser Menschen in direkter Wechselbeziehung“, betonte Prof. Dr. Amirhossein Takian von der Medizinischen Fakultät der Universität Teheran. Dies betreffe alle Phasen vor, während und nach der eigentlichen Flucht – mit jeweils unterschiedlichen Risikofaktoren.
Im Iran leben knapp 1 Million registrierte Geflüchtete und nochmals mehr als 1,5 Millionen nicht dokumentierte, vor allem aus Afghanistan.
Modell „Clearingstelle“
Als Versorgungsmodell in einem Aufnahmeland stellte PD Dr. Joachim Seybold, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Berliner Charité, die an diesem Klinikum seit 2016 bestehende Clearingstelle für psychiatrisch erkrankte oder traumatisierte Flüchtlinge vor. Dort nehmen 3 Psychiater (2 für Erwachsene, einer für Kinder und Jugendliche) bei täglich bis zu 20 Patienten eine Einschätzung der Behandlungsbedürftigkeit psychischer Probleme vor.

PD Dr. Joachim Seybold
Je nach Schweregrad werden dann entweder Kontakt zu einem Sozialarbeiter hergestellt, psychiatrische Kurzinterventionen vor Ort angeboten oder die Patienten an eine geeignete ambulante oder stationäre Einrichtung überwiesen. „Längst nicht jeder Patient“, so Seybold, „braucht dabei gleich eine Psychotherapie, damit ihm geholfen wird.“
In den vergangenen 3 Jahren führten die Ärzte der Clearingstelle auf diese Weise bei 7.500 Patienten (unabhängig vom Asylstatus) mehr als 12.000 Konsultationen durch.
Am häufigsten wurden Depressionen diagnostiziert, gefolgt von PTBS und Anpassungsstörungen. Auffällig bei der Diagnose Depression bei Geflüchteten ist einigen Studien zufolge, dass ihre Prävalenz mit der Dauer des Aufenthalts im Aufnahmeland auch zunehmen kann.
Unterschätzter Bedarf
„Der Bedarf an psychiatrischer Gesundheitsversorgung von Geflüchteten wird nach wie vor unterschätzt und sehr oft stehen bei der medizinischen Betreuung dieser Personengruppe zu sehr und über zu lange Zeit somatische Erkrankungen im Fokus“, kritisierte Seybold.
„Wir sehen die Clearingstelle deshalb als wichtigen niedrigschwelligen Anlaufpunkt und als Screening- bzw. Triagesystem für Patienten mit psychischen Problemen, um ihnen je nach Notwendigkeit eine adäquate Weiterbehandlung zu ermöglichen.“
WHO-Leitfaden zu Interventionen
In der psychiatrischen Versorgung Geflüchteter tätige Fachkräfte sollten auch für deren besondere Probleme geschult werden, bemerkte Dr. Santino Severoni von der WHO.
Welche Interventionen nützlich sind, um die psychische Gesundheit Geflüchteter zu fördern und seelische Störungen zu behandeln, beschreiben u.a. der im vergangenen Jahr veröffentlichte WHO-Leitfaden „Mental health promotion and mental health care in refugees and migrants“. Als Interventionsfelder genannt werden dabei:
die soziale Integration dieser Menschen,
die Überwindung von Hemmnissen zur Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung,
die Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten sowie
die eigentliche Therapie manifester psychischer Erkrankungen (etwa in Form einer traumazentrierten kognitiven Verhaltenstherapie).
Handlungsbedarf bei Sprachbarrieren
Ein großes Hindernis bei der medizinischen und hier insbesondere psychiatrischen Versorgung können Sprachbarrieren sein. „Problematisch dabei ist vor allem auch, dass die Kosten für Dolmetscherdienste bislang nicht von den Krankenkassen erstattet werden. Hier besteht eindeutig gesetzlicher Handlungsbedarf“, sagte Seybold von der Charité.

Dr. Miriam Orcutt
Dort werden solche Kosten von der Klinik bezahlt. Gute Erfahrungen habe man dabei auch mit Online-Dolmetschern gemacht, wenn kein Übersetzer vor Ort verfügbar ist. Zwar gibt es mittlerweile auch mehrsprachige Kommunikationshilfen in gedruckter Form oder als App, die für erste Anamnesen mit allophonen Patienten nützlich sein können, sicher aber kein Ersatz für einen professionell und interkulturell Dolmetschenden sind.
„Essenziell für eine effektive universelle Gesundheitsversorgung – wie sie von der WHO gefordert wird – ist es“, so das beim World Health Summit gezogene Resümee von Orcutt, Executive Director der UCL-Lancet Commission on Migration and Health, „Mobilität und Migration als Realitäten in unserer heutigen Zeit anzuerkennen. Letztlich würde die Einbeziehung von Migranten in unsere bestehenden Gesundheitssysteme dann nicht nur den Migranten, sondern ebenso der einheimischen Bevölkerung nützen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Das Trauma von Krieg und Flucht: Die seelische Gesundheit vieler Geflüchteter ist beeinträchtigt: Was ist zu tun? - Medscape - 14. Nov 2019.
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