Wenn für Frühchen und kranke Kinder kein Platz ist: Update zum Versorgungsnotstand in Kinderkliniken

Petra Plaum

Interessenkonflikte

12. November 2019

Wenn eine Münchner Hebamme twittert, sieht das bisweilen so aus: „Alltag im Kreißsaal: Leitstelle: ,Könnt ihr eine Gemini 24. SSW mit Blutung nehmen. Ihr seid meine letzte Hoffnung.‘ – ,Tut mir leid, wir haben keine Kapazitäten! Habt ihr alle anderen versucht?‘ – ,Ja.‘ – ,Augsburg?‘ – ,Geht auch nicht!!‘ Betretenes Schweigen. Auf beiden Seiten.“

Was aus Mutter und Kindern wurde, ist nicht bekannt. Bezeichnenderweise hatte gerade 2 Tage zuvor die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) – vertreten durch ihren in München praktizierenden Sprecher der Sektion „Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin“, PD Dr. Florian Hoffmann – vor einem Versorgungsnotstand in Deutschlands Kinderkliniken gewarnt [1].

 
Dass jedoch ganze pädiatrische Abteilungen sich mehrfach pro Monat von der Notfallversorgung abmelden müssen …, ist eine besorgniserregende Entwicklung. Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann
 

Ebenfalls alarmiert zeigt sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), die sich seit Jahren für den Erhalt von Kinderstationen engagiert. DGKJ-Präsidentin Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann betont: „Es gab schon immer belegungsstarke und belegungsschwächere Zeiten, dass jedoch ganze pädiatrische Abteilungen sich mehrfach pro Monat von der Notfallversorgung abmelden müssen und keine neuen Patienten aufnehmen können, ist eine besorgniserregende Entwicklung.“

Letzteres gehe aus IVENA-Daten hervor. DGKJ und DIVI fordern von Gesetzgeber und Klinikleitungen, schnell gegenzusteuern.

Wie akut ist der Versorgungsnotstand?

Der DIVI verweist auf im September publizierte Studienergebnisse eines Teams um Dr. Annic Weyersberg, Forschungsstelle Ethik der Universitätsklinik Köln [2]. Die Analyse der Belegungszahlen deutscher Kinderkliniken und die Befragung von 50 Beschäftigten aus Kinderkliniken, Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin und Kinderchirurgie zeichnet ein erschreckendes Bild: Zwischen 1991 und 2017 nahmen die jährlichen Fallzahlen von durchschnittlich 900.000 auf mehr als 1.000.000 zu, während die Bettenzahl in der Pädiatrie um ein Drittel sank.

PD Dr. Florian Hoffmann

Ein Befragter berichtete: „Im Winterhalbjahr sind die Engpässe besonders dramatisch. (…) Wir haben im ganzen Winter Kinder kreuz und quer verlegt, weit entfernt: Kinder, die sauerstoffabhängig waren, Kinder, die schwer krank waren.“ Ein anderer kritisierte, dass die Kontinuität und Qualität der Betreuung chronisch kranker Kinder in Wohnortnähe inzwischen gefährdet sei. Das bewirke, „dass wir ganz katastrophale Verläufe von Erkrankungen sehen, die wir so gar nicht mehr kennen.“

 
Immer öfter müssen Kinder in Kliniken umgeleitet werden, die mehr als 100 Kilometer vom Wohnort entfernt liegen. PD Dr. Florian Hoffmann
 

Besonders prekär ist den Interviewten zufolge die Situation in der Kinder-Intensivmedizin. Durch Personal- und Bettenmangel komme es regelhaft zu Versorgungsengpässen. Die Erfahrung von Hoffmann, Oberarzt auf der Interdisziplinären Kinderintensivstation am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München, deckt sich damit: „Immer öfter müssen Kinder in Kliniken umgeleitet werden, die mehr als 100 Kilometer vom Wohnort entfernt liegen. Ein Trauerspiel für eine medizinisch so gut entwickelte Region wie Deutschland.“

Weitere Daten vermittelte 2018 eine Umfrage der DIVI-Sektion „Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin“ unter deutschen Kinder-Intensivstationen:

  • 25% der befragten Stationen (n = 41) gaben an, im Jahr 2017 zwischen 25 und 50 Patienten wegen fehlender Bettenkapazitäten nicht aufgenommen zu haben.

  • Weitere 25% mussten sogar 50 bis 100 Kinder ablehnen.

  • 72% der befragten Stationsleiter stimmten der Aussage zu, dass in ihrer Region ein Defizit an Intensivbetten für Säuglinge und Kinder herrsche.

  • Durchschnittlich sind rund 20% der möglichen Intensivbetten wegen fehlender Pflegekräfte gesperrt.

Insgesamt gibt es derzeit noch 36 eigenständige pädiatrische Intensivstationen und 70 gemischte neonatologisch-pädiatrische Stationen mit dem Schwerpunkt Neonatologie.

Was Ärzte sich wünschen

Die DIVI sieht die Regierung in der Pflicht, den jüngsten Bürgern eine wohnortnahe und exzellente Versorgung zu garantieren. Klinikbetten für Kinder und Jugendliche müssen in ausreichendem Maße finanziert werden, fordern sie. Verbesserte Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sowie Verdienstmöglichkeiten von Pflegekräften könnten dem Personalmangel entgegenwirken.

Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann

Wo besonderer Mangel herrscht, präzisiert Prof. Dr. Krägeloh-Mann, Ärztliche Direktorin an der Universität Tübingen: „Kliniken mit umschriebenerem Profil und guter Auslastung stehen eher nicht so schlecht da wie manche Maximalversorger mit entsprechend sehr komplexem Leistungsprofil oder wie Kliniken in strukturschwachen Regionen. Die Finanzierung der Neonatologie ist grundsätzlich auskömmlich. Allerdings gilt auch hier die Maxime, dass das nur für voll ausgelastete Stationen gilt: Nur der behandelte Fall wird finanziert. Ist die Intensivstation nicht voll belegt, muss das Personal dennoch ,durchfinanziert‘ werden – ohne entsprechende Erlöse.“

Die DGKJ fordert darum auf Bundesebene:

  • eine Anpassung des Fallpauschalen-Systems, die der zeitintensiveren Versorgung und Pflege der Jüngsten gerecht wird und die hohe Notfallquote – 80% der stationären Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen kommen als Notfall – miteinberechnet;

  • dass Kinder nach einer OP oder Behandlung so früh entlassen werden, wie es medizinisch verantwortet werden kann – ohne finanzielle Bestrafungen für Klinikteams. „Die frühe Entlassung entspricht ihrem und auch dem Wunsch der Eltern“, so Krägeloh-Mann. „Doch sie führt regelhaft zur Unterschreitung der unteren Grenzverweildauer – und damit zu Abschlägen bei den Erlösen oder sogar kritischen Fragen seitens der Krankenkassen, ob der Fall nicht auch ambulant hätte behandelt werden können.“

Auf Landesebene wünscht sich die DGKJ:

  • Investitionen, um die Lücken der derzeitigen dualen Krankenhaus-Finanzierung zu füllen. „Seit Jahren ist bekannt, dass das Niveau der Krankenhaus-Investitionen in fast allen Bundesländern auf eine kaum noch wahrnehmbare Investitionsquote von unter 3 Prozent abgesenkt worden ist“, verweist Krägeloh-Mann auf Zahlen des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands (VKD). Das wirke sich auf alle Bereiche des Krankenhauses negativ aus.

  • Verbesserungen der Strukturierung der Pflegeausbildung. „Im Rahmen der Neuordnung der Pflegeausbildung (generalistische Ausbildung laut Pflegeberufegesetz [PfBG]) wird es wichtig sein, dass die Krankenpflegeschulen auch noch in Zukunft den Ausbildungsgang Gesundheits- und Kinderkrankenpflege anbieten“, so Krägeloh-Mann. „Sonst wird sich der Mangel an qualifizierter Pflege in unserem Bereich noch weiter verstärken.“

Wie die Gesundheitsministerien das sehen

Krägeloh-Mann lobt grundsätzliche Ansätze des Bundesgesundheits-Ministeriums (BGM), das DRG-System anzupassen, „auch wenn dies insbesondere im Bereich der komplex und chronisch kranken Kinder – Stichwort Extremkostenfälle – nachgewiesenermaßen zur Unterfinanzierung führt“.

Und die DGKJ befinde sich mit dem Ministerium im Dialog, was die angemessene Finanzierung von kurzen Aufenthalten, teilstationären sowie ambulanten Betreuungen in Kliniken angehe: „Wir hoffen, dass sich hieraus zeitnah etwas Positives entwickelt.“

Das BGM-Pressereferat beantwortete die Anfrage von Medscape unter anderem so: „Mit der jährlichen Kalkulation und Anpassung des Fallpauschalen-Systems an die jeweils aktuellen Rahmenbedingungen und den zusätzlichen Abrechnungsmöglichkeiten – Zusatzentgelte z.B. für aufwändige Pflege, besonders teure Medikamente, Langlieger-Zuschläge für besonders komplexe Erkrankungen – ist von einer sachgerechten Abbildung der stationären Leistungen von Kindern und Jugendlichen auszugehen.“

Allein 313 sogenannte „Kinder-DRGs“ im Katalog des Jahres 2019 sowie zusätzliche Abrechnungsmöglichkeiten stünden „im Grunde bereits für ein gesondertes Vergütungssystem für Kinder und Jugendliche.“ Darin sei einberechnet, dass Kinder mehr Personal benötigen als Erwachsene.

Der Sprecher des BMG ergänzt: „Der Gesetzgeber hat zudem mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz dafür gesorgt, dass jede zusätzliche Stelle und jede aufgestockte Pflegepersonal-Stelle am Bett von den Kostenträgern gezahlt wird. Mit dem Pflegeberufe-Gesetz und der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung wird die Pflegeausbildung ab dem Jahr 2020 zukunftsgerecht weiterentwickelt, attraktiver gemacht und es werden Qualitätsverbesserungen vorgenommen.“

Bernhard Seidenath

In Verantwortung für die den Bedarf deckende Versorgung und das Festlegen der stationären Kapazitäten seien im Übrigen die Länder verantwortlich. Für das Land Bayern kommentiert Bernhard Seidenath, Vorsitzender des Arbeitskreises Gesundheit und Pflege der CSU-Landtagsfraktion: „Vom Versorgungsnotstand sind wir weit entfernt. Wir haben in Bayern eine gewachsene und zum Glück auch dichte Krankenhausstruktur für die Versorgung der Kinder vor Ort – und zwar flächendeckend: Mit 43 Krankenhäusern mit der Fachrichtung Kinder- und Jugendmedizin (bzw. Kinderchirurgie) sowie 37 Krankenhäusern im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie verfügt Bayern über ein engmaschiges Netz einander ergänzender Kliniken für die Versorgung kranker Kinder.“ Es bleibe kein Kind unversorgt.

Einen Pflegenotstand sehe die CSU-Fraktion jedoch durchaus. Dem Dringlichkeitsantrag der SPD-Fraktion im Landtag folgte darum diesen Monat ein eigener der CSU-Fraktion. „Den Pflegenotstand zu bekämpfen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe“, betont Seidenath. „Hier sind wir alle gefordert! Die CSU beabsichtigt deshalb, ein Krankenpflege-Antragspaket mit diversen Vorschlägen, die die Situation entspannen können, in den Landtag einzubringen.“ Auch die besondere Situation der Kinderkrankenpflege werde dabei berücksichtigt.

Jeder kann Zeichen setzen

Doch es wird jetzt Winter, und die Mühlen der Politik mahlen eher langsam. Allen, die sich für eine bessere Versorgung von Kindern und Jugendlichen einsetzen möchten, empfiehlt Krägeloh-Mann: „Beteiligen Sie sich an Aufrufen, aktuell zum Beispiel der Petition des Stern oder der der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin. Sprechen Sie in Ihrem Bereich politische Vertreter auf die Problematik an und bitten Sie um deren Unterstützung: bezüglich der Finanzierungssituation (Fallpauschalen etc.), aber auch mit Blick auf Pflegeschulen und ihre Angebote.“

Aus dem Haunerschen Kinderspital kommt ein weiterer Ansatz, die Finanzierung einer besseren Versorgung zu sichern: Ein Team um Prof. Dr. Christoph Klein, Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, hat die Care-for-Rare Foundation gegründet, mit einem Fokus auf chronisch kranke Kinder mit seltenen Erkrankungen. Ziel ist unter anderem, pädiatrische Subdisziplinen zu erhalten bzw. schrittweise wiederaufzubauen.

Dass auch Politiker etwas tun können, um Krankenschwestern, Pfleger und Co in ihre Region zu holen und dort zu halten, zeigt das Beispiel von Seidenath: In Dachau hat er die Gründung einer Genossenschaft initiiert, die unter dem Leitgedanken „Habt ein Herz für soziale Berufe!“ Wohnungen anmietet und günstig weitervermietet. Mitglieder der Genossenschaft sind Einrichtungen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich aus Dachau.

 

Kommentar

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