Große Meta-Analyse: Was bringen Cannabinoide gegen Depressionen, ADHS, Angststörungen und Co?

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

8. November 2019

Hilft Cannabis bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Depressionen oder Angststörungen? Offenbar lindern THC-haltige Medikamente zumindest die Symptome bei Patienten mit Angststörungen. Eine allerdings nur niedrige Evidenz dafür fanden Prof. Dr. Louisa Degenhardt vom australischen National Drug and Alcohol Research Centre in Sydney und Kollegen in ihrer jetzt in The Lancet Psychiatry erschienenen Metaanalyse [1].

Bei depressiven Patienten zeigte sich im Severity Measure of Depression (SMD) unter medizinischem Cannabis eine Verringerung von 0,25 Punkten (95%-KI: -0,49 bis -0,01).

Doch insgesamt fällt die Bilanz der Wissenschaftler – sie hatten 83 Studien mit 3.000 Teilnehmern zu Cannabis bei Depressionen, Angststörungen, ADHS, Psychosen, posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) und Tourette-Syndrom ausgewertet – ernüchternd aus: Von der Symptomverbesserung bei Angststörungen abgesehen lasse sich aus den untersuchten Studien nicht ableiten, dass Cannabis-haltige Mittel eine über den Placeboeffekt hinausgehende positive Wirkung bei den genannten Erkrankungen hätten.

Und eine einzelne Studie deutet darauf hin, dass THC-haltige Medikamente bestehende Psychosen sogar verschlimmern können.

Cannabis-Verordnung: Gefundene Evidenz reicht nicht aus

Die gefundene Evidenz bezeichnen Degenhardt und Kollegen als „nicht ausreichend”. Sie kommen zu dem Schluss, dass aufgrund nicht vorhandener Evidenz – und wegen der Risiken von Cannabinoiden – „die Verwendung von Cannabinoiden bei psychischen Erkrankungen nicht gerechtfertigt werden kann”.

 
Die Verwendung von Cannabinoiden kann bei psychischen Erkrankungen nicht gerechtfertigt werden. Prof. Dr. Louisa Degenhardt und Kollegen
 

„Eine gute und wirklich umfangreiche Übersichtsarbeit, wenngleich sie wenig Neues liefert – dass die Datenlage zu Cannabinoiden nicht gut ist, ist ja bekannt”, kommentiert Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover, die Ergebnisse im Gespräch mit Medscape.

Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl

„Dass diese umfangreiche Analyse gemacht wurde, finde ich sehr gut. Ich sehe aber auch die Gefahr, dass die subjektive Perspektive der Autoren – auch in Metaanalysen ist die Wertung der Daten immer subjektiv – übersehen wird. Tatsächlich zeigen die Autoren auf, dass die Datenlage sehr dünn ist. Ich fürchte allerdings, dass das so gelesen und verstanden wird, als ob Cannabinoide nicht wirken”, erklärt Müller-Vahl.

Identische Studien – unterschiedliche Bewertung

Dass auch Metaanalysen nicht so objektiv sind, wie man glaubt, zeigt ein Vergleich der aktuellen Arbeit mit der 2015 im JAMA erschienenen Metaanalyse von Dr. Penny Whiting und Kollegen. Während die Studien zum Tourette-Syndrom bei Degenhardt und Kollegen gepoolt wurden und die Autoren hier keine Aussagen zur Evidenz treffen, wurden dieselben Veröffentlichungen von Whiting und Kollegen anders gewertet: Sie fanden eine Evidenz von niedriger Qualität (low quality evidence), dass Cannabinoide mit einer Verbesserung beim Tourette-Syndrom verbunden waren.

 
Tatsächlich zeigen die Autoren auf, dass die Datenlage sehr dünn ist. Ich fürchte allerdings, dass das so gelesen und verstanden wird, als ob Cannabinoide nicht wirken. Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl
 

Auswirkungen der Studienergebnisse auf die Praxis sieht Müller-Vahl sehr wohl: „Ich fürchte, dass Kolleginnen und Kollegen, die wenig Erfahrung mit dem Einsatz von Cannabinoiden haben, nach Lektüre der Studie noch mehr zur Zurückhaltung neigen. Diejenigen hingegen, die Erfahrungen damit haben, werden sich durch die Ergebnisse wohl eher nicht beeinflussen lassen. Ich selbst habe über 100 Patienten mit Tourette-Syndrom mit Cannabinoiden behandelt – aufgrund der Ergebnisse der Metaanalyse werde ich daran auch nichts ändern.”

Müller-Vahl kritisiert, dass Degenhardt und Kollegen bei Therapie-Alternativen zu Cannabinoiden „alles in einen Topf werfen”. So gibt es bei Depressionen ein viel breiteres Therapie-Instrumentarium als etwa beim Tourette-Syndrom, was Degenhardt und Kollegen aber nicht erwähnen.

 
Ich fürchte, dass Kolleginnen und Kollegen, die wenig Erfahrung mit dem Einsatz von Cannabinoiden haben, nach Lektüre der Studie noch mehr zur Zurückhaltung neigen. Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl
 

Für das Tourette-Syndrom ist nur ein einziges Mittel zur Therapie zugelassen: Haloperidol. „Aufgrund der starken Nebenwirkungen setzen wir das überhaupt nicht ein“, berichtet Müller-Vahl. Therapie der ersten Wahl sind Neuroleptika, inklusive starker Nebenwirkungen, gerade auch bei Kindern und Jugendlichen.

Cannabinoide sollten in RCTs getestet werden

Seit Anfang 2017 können Schwerkranke in Deutschland Cannabis auf ärztliche Verordnung hin erhalten. In 2018 wurden rund 95 000 Rezepte eingelöst. Zu den Anwendungsgebieten gehören chronische Schmerzen, Multiple Sklerose, Epilepsie, Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie oder Appetitlosigkeit bei HIV oder einer Aids-Erkrankung, Angststörungen, Schlafstörungen, das Tourette-Syndrom oder ADHS, so die Techniker-Krankenkasse.

In einem begleitenden Kommentar zur Metaanalyse schreibt Prof. Dr. Deepak Cyril D'Souza von der Yale University School of Medicine, USA [2]: „Eigentlich läuft der Prozess der Entwicklung moderner Medikamente so ab, dass zuerst die Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Studien nachgewiesen werden muss, bevor ein Medikament klinisch eingesetzt wird.

 
Damit Cannabinoide zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen eingesetzt werden können, sollten sie in RCTs getestet werden und das gleiche Zulassungsverfahren durchlaufen wie andere verschreibungspflichtige Medikamente auch. Prof. Dr. Deepak Cyril D'Souza
 

Bei Cannabinoiden scheine aber der Einsatz vor dem Nachweis zu stehen. Damit Cannabinoide zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen eingesetzt werden können, sollten sie in RCTs getestet werden und das gleiche Zulassungsverfahren durchlaufen wie andere verschreibungspflichtige Medikamente auch.”

Degenhardt und ihr Team kritisieren ebenfalls, dass größere und hochwertige Studien zur Wirkung von Cannabis bei psychischen Erkrankungen fehlen. Von ihren 83 in die Metaanalyse aufgenommenen Studien handelten 42 vom Einsatz von Cannabinoiden bei Depressionen, 31 von Angstzuständen, 8 vom Tourette-Syndrom, 3 von ADHS, 12 von PTBS und 11 von Psychosen.

Nur ein kleiner Teil der Studien waren RCTs. Und in viele Untersuchungen wurden Teilnehmer eingeschlossen, die etwa an Multipler Sklerose oder starken Schmerzen littenund waren zusätzlich an einer Angststörung oder Depression erkrankt waren.

Cannabis erst verordnen, wenn es keine Alternativen gibt

Aufgrund des allgemeinen Interesses an medizinischem Cannabis halten Degenhardt und ihre Koautoren weitere Untersuchungen für dringend notwendig: „Bis Beweise aus randomisiert-kontrollierten Studien vorliegen, können keine klinischen Leitlinien für die Verwendung von medizinischem Cannabis bei psychischen Erkrankungen erstellt werden.“

Müller-Vahl relativiert: „Dass wir dringend Studien zum Einsatz von medizinischem Cannabis brauchen, ist klar. Aber was machen wir bis dahin? Sollen wir den Patienten erzählen: Jetzt nicht, vielleicht in 4 oder 5 Jahren, wenn ausreichende Evidenz dazu vorliegt? Cannabinoid-haltige Medikamente sind definitiv keine Wundermittel, und sie haben Nebenwirkungen. Aber sie sind eben auch Mittel, die vielen Patienten deutliche Verbesserungen bringen.“

 
Cannabinoid-haltige Medikamente sind definitiv keine Wundermittel und sie haben Nebenwirkungen. Aber sie sind eben auch Mittel, die vielen Patienten deutliche Verbesserungen bringen. Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl
 

Ohnehin sind Cannabinoide nicht Mittel der ersten Wahl, sondern kommen allenfalls dann zum Einsatz, wenn keine anderen Therapien verfügbar sind. Sind vorherige Therapieversuche gescheitert, werden Cannabinoid-haltige Medikamente meist von Versicherungen auch übernommen.

„Die Anträge auf Kostenübernahme durch die Kassen kommen bei gut 60% Prozent der Patienten durch“, so Müller-Vahl. „Bei den anderen Patienten – bei denen ebenfalls eine Indikation für medizinisches Cannabis vorliegt – wird die Übernahme abgelehnt, manchmal muss man mehrfach Widerspruch einlegen, bis die Kosten übernommen werden, es gibt auch Patienten, die vor dem Sozialgericht auf Kostenübernahme klagen müssen.“

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....