Berlin – „Auch für digitale Behandlungen muss die oberste Prämisse der Medizin gelten: keinen Schaden zufügen.“ Dr. Bernardo Mariano, Chief Information Officer der Weltgesundheitsorganisation, brachte die zentrale Fragestellung auf dem Panel „Artifical Intelligence for Health: How to Ensure Quality?“ auf dem World Health Summit in Berlin auf den Punkt [1].
Wie lassen sich also die Potenziale der Digitalisierung optimal nutzen, ohne dabei neue Risiken für Patienten zu schaffen? Dazu gingen die Meinungen der Podiumsgäste teilweise auseinander.
Wenn die App den Leberfleck interpretiert
Prof. Dr. Christof von Kalle , Professor für Klinisch-Translationale Wissenschaften am Berlin Institute of Health und der Charité, mahnte: „Vergessen wir nicht die Chancen!“ Als Beispiel nannte er eine App, mit der Nutzer verdächtige Leberflecke fotografieren können. Die Software prüft dann, ob diese behandlungsbedürftig sind und wie dringend. „Die Trefferquote ist nicht schlechter als bei erfahrenen Dermatologen“, betonte er.
Dr. Stefan Germann, Chief Executive Officer der Schweizer Stiftung Botnar, verwies auf Algorithmen, die einen Typ-2-Diabetes 5 bis 10 Jahre vor seiner Entstehung voraussagen könnten – mit der Chance, ihn noch zu verhindern.
Damit verglichen war der Industrievertreter auf dem Podium fast schon ein Bremser. Dr. Bernd Montag , Präsident und Geschäftsführer von Siemens Healthineers, warnte davor, von der Digitalisierung Wunder zu erwarten: „Die meisten Anwendungen dienen dazu, Routineprozesse einfacher zu machen.“
Wenn beispielsweise ein Röntgengerät automatisch die richtige Strahlendosis berechne und auch die Aufnahmen optimiere, sei das Resultat am Ende dasselbe. „Aber sie brauchen keine spezialisierten Mitarbeiter mehr, um gute Röntgenaufnahmen zu machen.“ Die Digitalisierung entschärfe so das Fachkräfte-Problem. „Das gilt natürlich noch viel mehr in Entwicklungsländern.“
Wobei diese zuweilen eher pragmatische Lösungen für ihre Probleme bevorzugen. Dr. M. Khair ElZarrad vom Center for Drug Evaluation and Research der US-Zulassungsbehörde FDA, berichtete von einer Kollegin in Mosambik. Sie bekam das Angebot, Medikamente mit Drohnen im Land verteilen zu lassen. „Aber alles, was sie eigentlich brauchte, waren Mofas und Kühlboxen.“ Damit ließe sich die Versorgung auch organisieren.
Bisher keine Überlegenheit digitaler Behandlungen
Für Dr. Naomi Lee, Senior Executive Editor beim Lancet, gelten für digitalisierte Behandlungen letztlich dieselben Regeln wie für alle: „Die Evidenz muss überzeugend sein.“ Bisher liege aber keine einzige Studie vor, die zeige, dass künstliche Intelligenz an den entscheidenden Endpunkten Krankheitslast, Überlebensrate und unerwünschte Nebenwirkungen eine Verbesserung bringe.
„Man müsste dazu beispielsweise nur vergleichen, ob eine Behandlung durch Arzt und Software-Programm bessere Outcomes ergibt als eine Behandlung nur durch den Arzt.“ Lee ermunterte die Teilnehmer im Publikum, solche Untersuchungen zu initiieren.
Montag warnte umgekehrt davor, digitale Anwendungen mit Fragen zu überfrachten, die man auch lange vorher hätte lösen können. Als Beispiel nannte er die beim autonomen Fahren oft zitierte Frage, ob das Auto im Zweifelsfall lieber einen alten Mann oder ein Kind überfahren sollte. „Warum diskutieren wir diese Frage nicht in der Fahrschule?“
Von Kalle warnte davor, digitale Anwendungen zu streng zu regulieren: „Es muss genug Raum bleiben für Kreativität.“ Vergessen dürfe man auch nicht: Auch die Nicht-Nutzung von digitalen Anwendungen berge Risiken: „Menschliche Diagnose- und Behandlungsfehler sind in den USA die dritthäufigste Todesursache.“
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Diesen Artikel so zitieren: Die Digitalisierung betrifft bisher hauptsächlich Routinevorgänge – taugt sie als Mittel gegen Fachkräfte-Mangel? - Medscape - 6. Nov 2019.
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