Erneut Diskussion um Statine zur Primärprävention – vor allem bei jüngeren Menschen: Viele Nebenwirkungen, wenig Nutzen?

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

4. November 2019

Erhalten Patienten mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko Statine, ist die absolute Verringerung kardiovaskulärer Ereignisse gering – bei gleichzeitiger Gefahr, dass es zu typischen Nebenwirkungen der Substanzklasse kommt. Das berichtet Dr. Paula Byrne von der JE Cairnes School of Business and Economics, National University of Ireland Galway, Galway, zusammen mit Kollegen im BMJ  [1]. Basis ihrer Arbeit ist eine Literaturanalyse.

„Statine gehören mit zu den bestuntersuchtesten Substanzen in der Medizin. Diese Tatsache ist immer wieder Anlass, Fragestellungen neu zu betrachten, die eigentlich schon lange bekannt sind“, sagt Prof. Dr. Ulrich Laufs zu Medscape. Er ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung. „Allein die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprävention, wie im Artikel dargestellt, ist seit Jahren überholt“, ergänzt Laufs. Er selbst entscheidet anhand folgender Kriterien, ob Menschen von Statinen profitieren. Dazu gehören:

  • das individuelle kardiovaskuläre Risiko,

  • die Höhe des Gesamtcholesterins/des LDL-Cholesterins,

  • das Ausmaß der Cholesterinsenkung,

  • die Dauer der Cholesterin-Senkung.

Diese Faktoren könne man bei jungen Menschen nicht durch eine kurzfristige Number Needed to Treat (NNT), sprich durch die Anzahl notwendiger Behandlungen, um ein Ereignis zu vermeiden, darstellen, sagt der Experte.

Laufs betont den zeitlichen Faktor bei Präventionen. „Den Effekt einer Statin-Gabe bei jungen Menschen nur über wenige Jahre zu betrachten, wie hier geschehen, ist wenig zielführend.“ Dies vergleicht er mit Strategien zum Nikotinverzicht: „Die aktuelle Sicht auf das Cholesterin entspricht den Zigaretten, deren Konsum in ‚pack-years‘ angegeben wird.“

 
Die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprävention, wie im Artikel dargestellt, ist seit Jahren überholt. Prof. Dr. Ulrich Laufs
 

Das bedeute, der Schaden für die Gefäßwand sei eine Funktion aus der Höhe des Cholesterinspiegels und Zeitdauer der Exposition. Auch ein jugendlicher Raucher werde in den nächsten 10 Jahren keinen Vorteil von einem Rauch-Stopp haben, da weder Krebs- noch kardiovaskuläre Erkrankungen bis zum 30. Lebensjahr manifest würden. Der dramatische Vorteil des Nicht-Rauchens zeige sich im höheren Lebensalter.

Dennoch käme niemand auf die Idee – analog der Argumentationslinie der Autoren – das kurzfristige Rauchen bei jungen Menschen als ungefährlich zu bezeichnen. Genau diesen Gedanken überträgt Laufs auf die von ihm genannten Faktoren zum kardiovaskulären Risiko. Im Artikel sieht der Experte „keinen substantiell neuen Beitrag zur Diskussion, wer von Statinen profitiert“.

Was raten europäische Leitlinien?

Zum Hintergrund: Leitlinien empfehlen den Einsatz von Statinen bei Personen mit hohem kardiovaskulärem Risiko. Ob Menschen mit niedrigem Risiko ebenfalls profitieren, ist Byrne und ihren Kollegen zufolge unklar. Trotz dieser Unsicherheit verordneten Ärzte Statine teilweise recht freigiebig. In einer irischen Kohorte nahmen fast 2 Drittel aller Menschen über 50 Jahren diese Pharmaka ein (73% aller Frauen versus 57% aller Männer). Ähnliche Ergebnisse liegen aus Dänemark vor.

Laut Byrne und ihren Koautoren mache sich ein weiterer Trend bemerkbar, nämlich die Veränderung von Kriterien in den europäischen Leitlinien. Sie wählten als Untersuchungszeitraum 1987 bis 2016 und erfassten Änderungen anhand der irischen Kohorte. „Wir stellten fest, dass der Anteil unserer Stichprobe von Über-50-Jährigen, die für Statine in Frage gekommen wären, von 8 Prozent bezogen auf die Leitlinien von 1987 auf 61 Prozent bezogen auf die Leitlinien von 2016 gestiegen ist“, berichten die Forscher.

Die Erweiterung der diagnostischen Kriterien in diesem Zeitraum führte dazu, dass immer mehr Menschen mit geringerem Risiko für eine Behandlung in Frage kamen.

Ergebnisse der Literaturrecherche

Die Wissenschaftler um Byrne kritisieren, es gebe kaum Daten zu Statinen, die sich auf Low-Risk-Personen bezögen. So haben die meisten systematischen Übersichtsarbeiten Teilnehmer mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Vorgeschichte eingeschlossen. „Wir haben daher einen Überblick über systematische Übersichtsarbeiten erstellt, die den Nutzen von Statinen ausschließlich anhand von Daten der Primärprävention untersuchen“, schreiben die Autoren.

Dafür kamen 3 Übersichtsarbeiten infrage. Sie umfassten Personen, die Statine für einen Zeitraum von einem Jahr bis hin zu 5 Jahren einnahmen und deren Durchschnittsalter zwischen 62 und 69 Jahren lag.  

Insgesamt fanden sie zwar eine signifikante Verringerung der Gesamtmortalität (Relatives Risiko 0,91, 95%-KI 0,85-0,97), der vaskulären Mortalität (RR 0,85, 95%-KI 0,77-0,95) der schwerwiegenden koronaren Ereignisse (RR 0,71, 95%-KI 0,65-0,77) und der schwerwiegenden vaskulären Ereignisse (RR 0,75, 95%-KI 0,70-0,80).

Doch die Ergebnisse haben einen Haken: Die mit Statinen erzielte absolute Risikoreduktion hängt vom Basisrisiko einer Person für die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ab. Hier spielen bekanntlich Faktoren wie das Alter, das Geschlecht, der Rauchstatus, der Cholesterinspiegel und der Blutdruck eine Rolle. Berücksichtigten Forscher diese Einflüsse, war der Effekt von Statinen hinsichtlich der meisten kardiovaskulären Endpunkte nicht mehr statistisch signifikant.

Hinzu kommt: Selbst statistische Signifikanz bedeutet nicht klinische Relevanz. Das erläutern Byrne und ihre Co-Autoren anhand von 2 fiktiven Patientenfällen: Ein Mann, 65 Jahre alt und Raucher, hat keine Herzerkrankungen in der Vorgeschichte, aber einen erhöhten Gesamtcholesterinspiegel und einen erhöhten Blutdruck. Sein geschätztes Risiko, in den nächsten 10 Jahren ein schwerwiegendes koronares Ereignis zu erleiden, liegt bei 38%.

Im Vergleich dazu errechnet man bei einer 45-jährigen Frau, die nicht raucht, aber einen erhöhten Gesamtcholesterinspiegel und einen erhöhten Blutdruck hat, als absolutes Risiko 1,4%.

Statine würden das relative Risiko des Mannes um 24% und das der Frau um 41% reduzieren. Was beachtlich klingt, hat aber nur beim Mann klinische Relevanz. Er könnte eine absolute Risikoreduktion von etwa 9% erwarten, verglichen mit nur 0,6% bei der Frau.

Welche Nebenwirkungen nehmen Patienten in Kauf?

Es geht aber nicht nur um den Benefit. Natürlich müssen Ärzte bei jeder Pharmakotherapie den Nutzen gegen mögliche Risiken durch Nebenwirkungen abwägen. „Wir sehen klare Vorteile für Hochrisikogruppen, wie Menschen mit familiärer Hypercholesterinämie, aber für die meisten Patienten kann der Nutzen bestenfalls marginal sein“, so die Autoren weiter. Hier sei es wichtig, dies im Zuge einer Entscheidungsfindung klar zu kommunizieren.

Denn: Befragungen zufolge würden nur 3% aller älteren Patienten Medikamente einnehmen, deren Nebenwirkungen ihre Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigen, während fast die Hälfte leichte Müdigkeit oder Übelkeit akzeptabel fänden.

Bei Statinen lässt sich die Frage nach unerwünschten Effekten zudem nicht leicht beantworten. Obwohl schwerwiegende Nebenwirkungen extrem selten sind, wird immer noch über die Prävalenz milderer unspezifischer Nebenwirkungen diskutiert, einschließlich der Frage, ob es sich nicht doch vielleicht um den bekannten Nocebo-Effekt handelt.

Zulassungsstudien liefern hier wenig Informationen. Vielleicht sind die Merkmale der Studienteilnehmer nicht repräsentativ für Patienten aus der realen Welt. Vielleicht steckt auch der bekannte Publikationsbias dahinter: Gute Ergebnisse werden eher publiziert als schlechte Resultate (inklusive möglicher Nebenwirkungen). Doch trotz der Forderung an die Hersteller, alle Daten aus klinischen Studien zur Verfügung zu stellen, seien solche Informationen oft nicht vorhanden, kritisieren die Autoren im Artikel.

Auf dem Weg zu fundierten Entscheidungen

„Unsere Analyse deutet darauf hin, dass kein Patient mit niedrigem oder mittelhohem Risiko in der Primärprävention von Statinen zu einem Maß profitiert, welches die tägliche Einnahme rechtfertigen würde“, fassen Byrne und ihre Kollegen zusammen.

 
Unsere Analyse deutet darauf hin, dass kein Patient mit niedrigem oder mittelhohem Risiko in der Primärprävention von Statinen zu einem Maß profitiert, welches die tägliche Einnahme rechtfertigen würde. Dr. Paula Byrne und Kollegen
 

Sie verweisen aber auch gleichzeitig auf fehlende Daten. Ohne große Studien, die sich auf Bevölkerungsgruppen mit geringem Risiko berücksichtigten, ließen sich Fragen zur Evidenz kaum beantworten. Ziel solcher Untersuchungen sei, auch Ressourcen des Gesundheitssystems effizient zu verteilen.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....