Jetzt auch ADHS und autistische Störungen: Sectiones weiter unter Beschuss – doch die Studie ist nicht frei von Kritik

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

4. November 2019

Seit rund 30 Jahren nimmt die Zahl an Kaiserschnitten weltweit enorm zu. Umso beunruhigender sind Hinweise, wonach diese Art der Entbindung Kindern vermehrt gesundheitliche Nachteile bringt, etwa Allergien, Asthma oder Übergewicht. Eine Studie hat diese Liste jetzt um neurologisch-psychiatrische Erkrankungen erweitert: Demnach ist auch das Risiko für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) und autistische Störungen erhöht.

Dies berichtet Tianyang Zhang vom Centre for Psychiatry Research, Department of Clinical Neuroscience, Karolinska Institutet, Stockholm, zusammen mit Kollegen in JAMA Network Open[1].

„Für Verunsicherung ist es zu früh, denn gegen die Publikation lässt sich einiges einwenden“, stellt allerdings die Kinder- und Jugendpsychiaterin Prof. Dr. Renate Schepker im Gespräch mit Medscape klar. Die Regionaldirektorin am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg nennt als Hauptargument: „Es handelt sich ja nicht um eine Studie im eigentlichen Sinn, sondern um eine Metaanalyse, die von vornherein mit einem Publikations-Bias belastet sein kann. Hinzu kommen spezielle methodische Probleme.“

 
Es handelt sich ja um eine Metaanalyse, die von vornherein mit einem Publikations-Bias belastet sein kann. Prof. Dr. Renate Schepker
 

Die Autoren haben Datenbanken nach Einträgen durchforstet

Tatsächlich haben die Forscher um Zhang ihre Veröffentlichung aus Einträgen in Datenbanken zusammengestellt: Ovid Medline, Embase, Web of Science und PsycINFO. Daraus wollten sie errechnen, ob nach einem Kaiserschnitt neurologische und psychiatrische Störungen häufiger vorkommen als nach einer vaginalen Geburt.

Ausgangspunkt der Recherche waren Hinweise, wonach eine Schnittentbindung die Gehirnentwicklung beeinträchtigt. Wie die Neurowissenschaftler schreiben, könne ein Kaiserschnitt bei Komplikationen zwar vor Behinderung schützen und sogar lebensrettend sein, stehe aber gleichzeitig im Verdacht, die Gesundheit der Kinder zu beeinträchtigen, wenn er ohne Indikation erfolge. Es gibt Berichte über ein gehäuftes Auftreten von Übergewicht, Allergien oder Asthma sowie Typ-1-Diabetes oder sogar akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL).

Über die biologischen Mechanismen wird viel spekuliert: Ist das Immunsystem gestört, weil die Kinder nicht mit der Vaginalflora in Kontakt kommen und die bakterielle Besiedlung ihres Körpers anders verläuft? Oder beeinträchtigt das Fehlen einer Stressantwort bei der Geburt die sensorische Aktivierung? Beziehungsweise wird eventuell die epigenetische Regulation verändert?

Rat der Forscher: Kaiserschnitt nur nach genauer Prüfung

Um speziell die Hirnreifung zu untersuchen, hat das schwedisch-spanische Team 61 Beobachtungsstudien mit insgesamt mehr als 20 Millionen Entbindungen berücksichtigt. Ihr Resultat: Verglichen mit Babys, die auf üblichem Weg zur Welt kamen, waren Kaiserschnitt-Kinder gefährdeter. 1,33 betrug das Quotenverhältnis (Odds Ratio, OR) für Störungen des Autismus-Spektrums und 1,17 für ADHS. Diese Unterschiede waren statistisch signifikant.

„Allen Anzeichen nach schließen sich unsere Ergebnisse an die bereits bekannten abträglichen Folgen eines Kaiserschnitts an und legen nahe, die Indikation sorgfältig abzuwägen“, empfehlen die Autoren.

 
Allen Anzeichen nach schließen sich unsere Ergebnisse an die bereits bekannten abträglichen Folgen eines Kaiserschnitts an und legen nahe, die Indikation sorgfältig abzuwägen. Tianyang Zhang und Kollegen
 

Doch Schepker hält die Aussagekraft der Metaanalyse für begrenzt, weil die eingeschlossenen Studien, darunter 27 zu Autismus und 13 zu ADHS, sehr heterogen sind. Zum Beispiel liegen die Zeiträume zwischen 1970 und 2016. Auch die Zahl an Teilnehmern schwankt immens – von knapp 100 bis 2,5 Millionen. Das Alter der Probanden variiert von 2 bis fast 30 Jahre. Die Länder: Polen, Schweden, Libanon, Türkei, Ägypten, Japan, Australien, USA oder Brasilien, um nur einige aufzuzählen. Aber ausgerechnet Deutschland fehlt.

„Nach meiner Ansicht ist es problematisch, Schwellenländer mit Nationen zu vergleichen, die über ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem verfügen“, kommentiert die Psychiaterin.

Die Aussagekraft ist durch methodische Probleme eingeschränkt

Darüber hinaus variiere der Anteil der Kaiserschnitte international beträchtlich. In Skandinavien beträgt die Quote weniger als 20%, in Deutschland rund 33%, in der Türkei 43%, in brasilianischen Städten bis zu 90% – mit jeweils großen regionalen Unterschieden. Die Rate der etwas geringschätzig „Wunsch-Kaiserschnitte“ genannten Entbindungen wird für Deutschland mit 2% angegeben.

Was die Daten von Zhang und Kollegen so brisant macht: Seit 1990 hat sich die Zahl der Kaiserschnitte weltweit fast verdreifacht, von 6% auf 21% im Jahr 2015. Expertengremien jedoch, darunter die WHO, halten eine Sectio nur bei etwa 15% aller Geburten für notwendig.

„Diese Grenze wird stark angezweifelt“, bemerkt Schepker. „Denn für einen Kaiserschnitt gibt es zunehmend gute Gründe: Die Frauen sind bei der Geburt älter, haben häufiger Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes.“ Außerdem handelten Geburtshelfer nach dem Motto „Besser zu früh als zu spät“, aus Fürsorge, aber auch aus Furcht vor Rechtsstreitigkeiten.

 
Für einen Kaiserschnitt gibt es zunehmend gute Gründe: Die Frauen sind bei der Geburt älter, haben häufiger Übergewicht, Bluthochdruck oder Diabetes. Prof. Dr. Renate Schepker
 

In prospektiven Studien waren die Unterschiede gering

Vorbehalte hat Schepker zudem beim Design der Studien: Es dominieren die retrospektiven und darum strittigeren Fall-Kontroll-Studien. „Die prospektiven, verlässlicheren Kohortenstudien sind dagegen in der Minderzahl, aber gerade sie fanden keine großen Unterschiede“, konstatiert sie. Weiterhin sei unklar, ob die Angaben zur Diagnose von den Kindern bzw. deren Eltern oder von Ärzten stammen.

 
Die prospektiven, verlässlicheren Kohortenstudien sind in der Minderzahl, aber gerade sie fanden keine großen Unterschiede. Prof. Dr. Renate Schepker
 

Auch die Forscher selbst sehen in der Heterogenität ihrer ausgewerteten Studien ein Manko, ebenso in der geringen Zahl. So vermuten sie darin Gründe, warum die Schätzungen für intellektuelle Behinderungen (OR 1,83), Zwangsstörungen (OR 1,49), Tic-Störungen (OR 1,31) und Essstörungen (OR 1,18) wenig präzise sind. Obwohl die Quotenverhältnisse höher oder ähnlich liegen wie für ADHS und autistische Störungen, erreichen sie doch keine Signifikanz.

Für Depressionen und Psychosen ist der Zusammenhang ebenfalls nur schwach, eventuell ein Indiz, dass ihnen jeweils spezifische Mechanismen zugrunde liegen.

Nach einem Kaiserschnitt sind die ersten Atemzüge erschwert

Falls wirklich eine Assoziation zwischen Autismus und ADHS einerseits und Kaiserschnitt andererseits besteht, was wäre die Erklärung? Schepker beschreibt eine Möglichkeit: „Normalerweise wird die Flüssigkeit, die sich in der Lunge des Neugeborenen befindet, während der Passage des engen Geburtskanals herausgepresst. Beim ersten Schrei kann sie sich also sofort mit Luft füllen.“

Beim Kaiserschnitt dagegen falle die Kompression fort, so dass die Luft passiv eingezogen werden müsse. Obwohl die Nabelschnur erst anschließend durchtrennt werde, sei dennoch ein Defizit denkbar. „Da ein Sauerstoffmangel vor allem motorische Entwicklungsstörungen begünstigt, hätte ich es interessanter gefunden, diese Assoziation zu untersuchen statt zu ADHS oder Autismus.“

Die Forscher wollten noch einen neuen Ansatz prüfen: „Unseres Wissens haben wir erstmals untersucht, ob elektives und notfallmäßiges Vorgehen unterschiedlich mit der Hirnreifung korreliert sind.“

Denn theoretisch könnte der ungünstige Effekt mit nur einer der beiden Varianten verknüpft sein. Etwa mit dem geplanten Kaiserschnitt: So wäre vorstellbar, dass die Mutter darauf besteht, weil sie schlecht mit Stress umgehen kann, weil sie Angst hat vor der Unberechenbarkeit einer natürlichen Geburt. Das wiederum würde auf eine psychische Labilität hindeuten, deren genetische Komponente an Kinder weitergegeben wird.

ADHS und Autismus haben starke genetische Komponenten

„Bei Entwicklungsstörungen ist ja grundsätzlich die Frage, inwieweit Veranlagung oder Umwelteinflüsse hineinspielen. Bei ADHS weisen familiäre Häufung und Genanalysen auf eine Anfälligkeit hin, bei Autismus gelten genetische Faktoren als noch entscheidender“, berichtet die Kinder- und Jugendpsychiaterin.

Allerdings: Wie Zhang und Mitarbeiter herausfanden, war es unerheblich, ob der Kaiserschnitt schon vor oder erst nach dem Einsetzen der Wehen vorgenommen wurde. „Es ist bemerkenswert, dass die Werte für ADHS und autistische Störungen nach beiden Kaiserschnitt-Formen fast identisch waren verglichen mit vaginalen Entbindungen“, betonen sie in ihrer Veröffentlichung.

Sie verweisen darauf, dass Notfall-Kaiserschnitte ebenfalls mit Defiziten einhergehen könnten. Denn diese Eingriffe werden ja zum Beispiel bei einem Herzton-Abfall des Fetus in der Kardiotokografie (CTG) oder einer Präeklampsie der Mutter beschlossen – Bedingungen also, die als abträglich für die Entwicklung bekannt sind. Eine Traumatisierung durch die kritische Geburtssituation könnte hinzukommen. 

Schepkers Fazit: „Ich rate dazu, die Ergebnisse nicht zu überschätzen. Vor allem sind sie nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Der neuropsychologische Zusammenhang ist fraglich, erst recht kann man dem Kaiserschnitt nicht zwangsläufig eine kausale Bedeutung beimessen.“ 

 
Ich rate dazu, die Ergebnisse nicht zu überschätzen. Vor allem sind sie nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Prof. Dr. Renate Schepker
 

Info-Kasten: Publikationsbias

Als Publikationsbias bezeichnet man die statistisch verzerrte Datenlage zu einer wissenschaftlichen Fragestellung. Das verfälschte Bild kommt dadurch zustande, dass in Fachzeitschriften, zumal in renommierten und einflussreichen, Studien mit „negativen“, sprich nicht-signifikanten Resultaten, tendenziell unterrepräsentiert sind. Der Grund: Die Herausgeber bevorzugen Studien mit signifikanten Ergebnissen.

Hinzu kommt: Forscher lassen Studien, bei denen nichts herausgekommen ist, oft in der Schublade verschwinden – deshalb spricht man vom „Schubladenproblem“ (File Drawer Problem). Hier können wirtschaftliche Erwägungen von Sponsoren mitspielen, etwa in der Medizin, wenn Pharma-Unternehmen wenig Interesse an einer Veröffentlichung haben, die ihrem Medikament keine Überlegenheit bescheinigt.

So hat der Publikationsbias zur Folge, dass die Wirksamkeit von Therapien überbewertet wird, weshalb bei Therapieempfehlungen aufgrund von Metaanalysen Vorsicht geboten ist. 

Als Gegenmaßnahme akzeptieren einige Journale nur langfristig angekündigte Arbeiten. Außerdem haben sich, vor allem im Internet, Portale für Studien mit nicht-signifikanten Resultaten etabliert. Die Cochrane Collaboration nutzt solche Studien ebenfalls, und zwar für Analysen zu Standards in der Medizin.

Bestimmen lässt sich der Publikationsbias per Trichter-Diagramm (Funnel-Plot): Ergibt sich beim Auftragen des Behandlungseffekts gegen die Studiengröße ein symmetrisches Dreieck, spricht das für Ausgewogenheit. Rechnerisch kann man mit dem Egger-Test eine Symmetrie entweder bestätigen oder ausschließen.

 

Kommentar

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