Berlin – „Die Zahl ist eine totale Katastrophe.“ Prof. Dr. Andreas Bechdolf, Chefarzt der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes Klinikum Am Urban und Friedrichshain in Berlin, fand auf dem Hauptstadtsymposium „Psychosoziale Therapien heute und morgen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) deutliche Worte zum Thema Arbeitsteilhabe von psychisch schwer kranken Menschen [1].
Der Grund: Nur 20% der Patienten, die stationär behandelt werden, haben einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dabei sagen 65%, dass Arbeit und Ausbildung ihnen wichtig ist, um mit der Krankheit zurechtzukommen
Das IPS-Konzept schließt keinen Patienten aus
Immerhin: In der aktualisierten S3-Leitlinie für diese Patienten wurden mehrere neue Empfehlungen zu dem Thema aufgenommen. So sollen jetzt unter anderem „Programme mit dem Ziel einer raschen Platzierung direkt auf einem Arbeitsplatz des allgemeinen Arbeitsmarktes und notwendiger Unterstützung (Supported Employment) angeboten werden“.
Diesem Prinzip folgt auch das Konzept „Individual Placement and Support“ (IPS) (individuelle Platzierung und Unterstützung), das Bechdolf in seinem Klinikum anwendet. Auf dem Symposium stellte er eine erste Auswertung dazu vor – mit ermutigenden Ergebnissen.
Früher dachte man, der Patient müsse erst trainieren, bevor man ihm wieder einen Job zumuten kann. Zudem waren manche Patienten von Programmen ausgeschlossen, weil man sie ihnen nicht zutraute. IPS hat hingegen die Regel „zero exclusion“: Wer teilnehmen möchte, darf teilnehmen.
„Das ist zum einen eine Frage der Haltung“, sagt Bechdolf, „zum anderen gibt es aber auch wenig Prädiktoren, wovon eine erfolgreiche Arbeitsaufnahme abhängt.“ Er habe selbst schwer psychisch kranke Patienten gehabt, „wo man das nicht gedacht hätte – aber die haben es sehr wohl geschafft“.
Das Programm startet direkt auf der Station: IPS-Coaches stellen sich in der Morgenrunde vor. Die Patienten können sich dann direkt an sie wenden. Wie und wo er (wieder) arbeiten möchte, entscheidet allein der Patient. „Es geht also nicht danach, wo vielleicht gerade ein Platz frei ist“, sagt Bechdolf.
Neu ist auch: Der Patient kann, wenn er will, sofort wieder anfangen zu arbeiten oder sich zu bewerben. Er wird dann im Job weiter begleitet. „Place-train-maintain“ nennen das die Experten (in etwa: Platzieren, trainieren, den Arbeitsplatz erhalten). Früher glaubte man, dass schwer psychisch kranke Patienten immer erst geschult werden müssten (Train-place). Wer möchte, kann das aber auch im IPS-Programm in dieser Reihenfolge machen.
Jeder zweite fand einen Job oder Ausbildungsplatz
Zu Beginn des Programms wurden alle Patienten auf der Station gefragt, ob sie sich Unterstützung dabei wünschen, einen Arbeitsplatz zu finden oder zu erhalten. Von den unter 35-Jährigen bejahten dies 79,2 %. Von den Älteren allerdings nur noch 41,8 %. Wie es zu dieser sinkenden Motivation kommt, kann sich Bechdolf auch nicht ganz erklären: „Es ist vielleicht eine Mischung aus Resignation und der Erfahrung mit Berentung.“
166 Patienten nahmen zwischen April 2016 und Juni 2018 am Programm teil. Die größte Diagnosegruppe bildeten mit 45% affektive, gefolgt von schizophrenen (34%) und neurotischen Störungen (10%). Der Altersdurchschnitt betrug 37,1 Jahre, Männer und Frauen waren etwa gleich oft vertreten. 58% waren bei Beginn arbeitslos, 78% als arbeitsunfähig eingestuft.
Am Ende des Programms erhob die Klinik die Erfolgsrate: 51% der Teilnehmer hatten einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt oder absolvierten eine Ausbildung. „Das ist ganz ordentlich“, resümiert Bechdolf. Er gibt zu bedenken, welche Kosten es auch gesellschaftlich verursacht, wenn Menschen dauerhaft vom Arbeitsleben ausgeschlossen bleiben.
„Schonwaschgang“ hilft den Betroffenen nicht
Die stärkere Zentrierung auf den Willen der Patienten, die sich an vielen Stellen der aktualisierten Leitlinie findet, begrüßten vor allem die Vertreterinnen der Selbsthilfe und der Angehörigen. „Endlich sind unsere Wünsche wahr geworden“, sagt Janine Berg-Peer, deren Tochter vor 22 Jahren mit 17 an Schizophrenie erkrankte und die darüber 2 Bücher geschrieben hat und einen Blog betreibt. Ihrer Tochter wurde von der Sozialarbeiterin in der Klinik noch von einem Job abgeraten mit der Begründung: „Sie haben doch die Erwerbsunfähigkeitsrente!“
Auch Angehörige schalteten zuweilen in den „Schonwaschgang“, weiß Berg-Peer, die von Beruf Karriereberaterin ist. Doch viel hilfreicher sei es, einem Patienten zu sagen „Du bist zwar im Moment krank. Aber du hast noch ein anderes Leben.“ Sie gebe daher letztlich den gleichen Rat wie für Gesunde: „Einfach mal etwas versuchen.“ Und wenn man dann scheitert, sei es auch kein Drama: „Gesunde scheitern auch.“
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Keinen ausschließen: Viele psychisch Kranke können arbeiten – wenn man sich am Patienten orientiert und ihm etwas zutraut - Medscape - 4. Nov 2019.
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