Kinder und Jugendliche aus den USA konsumieren immer häufiger nicht-nahrhafte Süßstoffe („Non-Nutritive Sweeteners“, NNS), weil ihre Eltern Produkte anhand der Kennzeichnung „zuckerreduziert“ auswählen. Doch wie sich NNS auf die Gesundheit der Kinder und Heranwachsenden auswirken, ist weitgehend unbekannt.
Davor warnen nun Forscher der American Academy of Pediatrics (AAP) unter Federführung von Dr. Carissa M. Baker-Smith, University of Maryland, Baltimore. Ihre systematische Literaturanalyse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen haben sie in der Zeitschrift Pediatrics veröffentlicht [1]. Von den Herstellern fordern sie eine genauere Kennzeichnung aller NNH-haltigen Lebensmittel.
Auch in Deutschland fehlen Mengenangaben
In Deutschland sind Experten mit ihnen einer Meinung. „Die Aussagen kann ich nur unterstützen. Die Empfehlungen sind angemessen und auf Europa übertragbar“, sagt z.B. PD Dr. Sandra Hummel. Sie leitet die Arbeitsgruppe „Gestationsdiabetes“ am Institut für Diabetesforschung des Helmholtz Zentrums München.
„Ein Labeling wäre hilfreich – sowohl für den Verbraucher, wenn es um die individuelle Abschätzung der täglichen Zufuhr an NNS geht, als auch für die Wissenschaft, um z.B. die tägliche Aufnahme von Süßstoffen bei Kindern zu erfassen.“ Für Deutschland gebe es bei Kindern nur Daten zur Verzehrhäufigkeit von künstlich gesüßten Lebensmitteln und Getränken, aber nicht zur genauen Menge und Art der Süßstoffe.
Konsum von NNS bei Kindern und Jugendlichen gestiegen
Baker-Smith und ihre Koautoren stießen bei Recherchen für ihre systematische Literaturübersicht auf große Wissenslücken. Dennoch konnten sie einige Informationen zusammentragen. So zählen Sucralose (5.148 Lebensmittel), Acesulfam-K (3.882), Aspartam (2.307), Stevia (642) und Saccharin (100) zu den häufigsten NNS in US-Produkten.
Daten aus der Nationalen Gesundheitsstudie (NHANES) zeigen, dass zwischen 1999 und 2000 weniger als 1,0% aller Kinder regelmäßig Getränke mit NNS konsumiert hatten. Dieser Wert ist zwischen 2007 und 2008 auf mehr als 7% angestiegen. Die meisten Eltern (72%) lehnen es Befragungen zufolge zwar ab, dass Kinder NNS konsumieren. Allerdings identifizierten nur 23% aller Mütter und Väter entsprechende Lebensmittel, die künstliche Süßstoffe enthalten, korrekt im Supermarkt.
Krebs und NNS
Ob NNS mit einem höheren Krebsrisiko in Verbindung stehen, war lange Zeit Gegenstand der Forschung – und ein kontroverses Thema. Viele Daten seien anfangs nur aus Tierexperimenten gekommen, schreiben Baker-Smith und ihre Kollegen. Die früher proklamierte Assoziation zwischen Cyclamat und Krebs sei mittlerweile widerlegt. Beobachtungsdaten zeigten bei Erwachsenen keinen Zusammenhang zwischen NNS und Krebs. Derzeit fehlen jedoch Daten aus Langzeitstudien mit Kindern.
Hummel zufolge gibt es „bislang keine Anhaltspunkte, dass Süßstoffe bei einer Dosierung unterhalb des ADI-Wertes gesundheitlich bedenklich sind“. Der ADI-Wert ist die erlaubte Tagesdosis (acceptable daily intake, ADI), welche die bei lebenslanger täglicher Aufnahme einer Substanz als unbedenklich zu bewerten ist.
Allerdings sei die Datenlage zu Langzeiteffekten eines regelmäßigen Konsums von NNS bei Kindern und Jugendlichen „immer noch unzureichend, um eine abschließende Einschätzung abgeben zu können“, ergänzt Hummel.
Appetit, Geschmacksempfinden und NNS
Baker-Smith und ihre Koautoren berichten auf Basis der analysierten Studien, dass die zunehmende Verbreitung von NNS – überraschenderweise – auf Populationsebene mit einem Anstieg (und eben nicht mit einer Reduktion) der Prävalenz von Übergewicht assoziiert ist.
Wie das kommt? „Die Daten liefern Hinweise, dass die Verwendung von NNS die Aufnahme von zuckerhaltigen Lebensmitteln und Getränken insgesamt durch Beeinflussung der Geschmackspräferenzen fördern kann“, so die Autoren.
Hummel stimmt dem zu und kommentiert: „Auch hier müssen noch weitere Langzeituntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden, um den Effekt von Süßstoffen auf Geschmacksvorlieben, Appetitregulation, Gesamtenergiezufuhr und Stoffwechsel besser bewerten zu können.“
Forschungsbedarf besteht Hummel zufolge vor allem bei Fragen zur Langzeitwirkung von Süßstoffen auf die Gewichtsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Dabei sollte insbesondere die Menge und Art der verzehrten Süßstoffe berücksichtigt und deren potenzielle Wirkmechanismen untersucht werden. „Wie beeinflusst der Süßstoffkonsum die tägliche Energiezufuhr, das Appetitverhalten beziehungsweise die Geschmackspräferenzen?“, will die Expertin wissen.
Übergewicht und NNS
Konsumenten, die bereits an Übergewicht oder Adipositas leiden, greifen zu Produkten mit NNS, um weniger Kalorien aufzunehmen. Der Leitlinie zufolge deuten die meisten Daten darauf hin, dass sich speziell bei dieser Gruppe auch tatsächlich das Körpergewicht stabilisiert – oder es sogar zu einem geringfügigen Gewichtsverlust kommt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas.
Studien legen nahe, heißt es weiter, dass NNS individuell als Teil eines umfassenden Programms zur Gewichtsreduktion oder Gewichtserhaltung bewertet werden können. Die langfristigen Auswirkungen bei Kindern und Jugendlichen, seien derzeit jedoch nicht bekannt.
Hummel sagt dazu: „Eine Gewichtsabnahme durch den Gebrauch von NNS ist wohl vor allem durch eine verminderte Kalorienaufnahme zu erklären, wenn bei gleichbleibender Nahrungsmittel-Aufnahme Zucker durch Süßstoff ersetzt wird.“
Stoffwechsel und NNS
Die Ernährungsexpertin weist auch auf Ausnahmen und Einschränkungen hin: „Eine klare Kontraindikation besteht für den Verzehr von Aspartam-haltigen Lebensmitteln oder Süßstoffen bei Kindern mit der angeborenen Stoffwechselstörung Phenylketonurie“, sagt Hummel. „Diese Kinder können die Aminosäure Phenylalanin, ein Bestandteil von Aspartam, nicht richtig in ihrem Körper abbauen und sollten deshalb Aspartam-haltige Lebensmittel und Süßstoffe unbedingt meiden.“
Zu den sonstigen Auswirkungen von NNS auf den Stoffwechsel und das Diabetesrisiko sei ein besseres Verständnis erforderlich, einschließlich der Frage, ob (wie Beobachtungsstudien zeigen) die NNS-Aufnahme lediglich mit einem höheren Risiko für ein metabolisches Syndrom und Diabetes korreliert ist oder ob doch ein kausaler Zusammenhang besteht, schreiben Baker-Smith und ihre Kollegen. Eine Hypothese ist, dass das Darm-Mikrobiom bei der Vermittlung der Effekte beteiligt ist.
Und dann kommt es natürlich noch auf die konsumierten NNS-Mengen an: In einer prospektiven Studie mit Jugendlichen, die an Typ-1-Diabetes (n = 227) litten, schätzten Forscher anhand eines 5 Tage lang geführten Ernährungstagebuchs, dass die erlaubten Tagesdosen bei Saccharin, Acesulfam und Aspartam nicht überschritten wurden. Allerdings schwankte die Aufnahme individuell stark zwischen 5% und 94% des jeweiligen ADI-Wertes. Als Hauptquellen für NNS nennen die Autoren wenig überraschend Softdrinks.
Hummel merkt jedoch an, dass es gerade bei Kindern mit einem Typ-1-Diabetes, die Haushaltszucker meiden müssen, auch zu einem überdurchschnittlich hohen Süßstoffkonsum und zu gelegentlichen Überschreitungen des ADI kommen kann.
Bewertung auf europäischer Ebene
Von den USA nach Europa: Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat jetzt ebenfalls begonnen, alle vor 2009 zugelassenen NNS zu bewerten. In diesen Vorgang soll auch einfließen, wie gut die Datenlage zu dem jeweiligen Süßstoff ist. Bis Ende 2020 will die EFSA ihr Projekt abschließen.
Medscape Nachrichten © 2019 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Süßstoffe für Kinder: Wie gesund oder schädlich sind sie? US-Pädiater geben Empfehlungen und bemängeln Wissenslücken - Medscape - 29. Okt 2019.
Kommentar