Sehr viele Patienten leiden lange unter Folgen einer Krebstherapie. PD Dr. Georgia Schilling diskutiert Studien zur Supportivtherapie vom ASCO-Kongress in einer 3-teiligen Mini-Serie. Teil 1: Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie.
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Georgia Schilling.
Ich möchte Ihnen heute vom ASCO-Kongress 2020 berichten
Ich bin Chefärztin der Abteilung für Onkologische Rehabilitation in der Asklepios Nordsee-Klinik Westerland auf Sylt und leitende Oberärztin im Asklepios-Tumorzentrum in Hamburg. Ich beschäftige mich sehr viel mit Langzeit-Folgeschäden und patientennahen Themen.
Deshalb möchte ich Ihnen meine Highlights von den Abstracts aus den Sessions zur Supportivtherapie und Survivorship vorstellen. Es geht im ersten Teil um die Polyneuropathie. Weiter geht es demnächst mit Teil 2 und Teil 3 zu den Themen Patient Reported Outcomes(PROs) und Fatigue.
Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPN)
Zu diesem Thema gab es berechtigterweise zahlreiche Abstracts. Die CIPN ist nach wie vor ein Symptom, das während der Chemotherapie und im Langzeitverlauf auftritt. Es ist lang anhaltend und belastet die Patienten stark.
Die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie ist extrem schwer zu behandeln. Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch an die ASCO Clinical Practice Guideline aus dem Jahr 2014, die über 30 Seiten umfasste. Dort gab es eine einzige Empfehlung, nämlich Duloxetin, um die Schmerzkomponente bei einer Polyneuropathie zu senken. Es gab keine Empfehlung im Sinne einer Prävention und auch keine weitere Empfehlung zu einer Therapie.
Zahlreiche Abstracts vom diesjährigen ASCO-Kongress beschäftigen sich deshalb auch mit dieser Thematik.
CINP bei Langzeitüberlebenden
Beginnen möchte ich mit einer Arbeit aus Australien von Eva Battaglini et al. [1]. Diese Arbeitsgruppe hat die Auswirkungen der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie bei Langzeitüberlebenden untersucht. Auf eine Online-Befragung haben knapp 1.000 ehemalige Patienten geantwortet.
Davon waren 83% Frauen und entsprechend hoch war die Anzahl der Mammakarzinome (59%). Die Zeit nach dem Abschluss der Therapie betrug im Mittel 3,6 Jahre.
Von den Antwortenden haben 80% polyneuropathische Symptome direkt nach Beendigung der Chemotherapie angegeben. Aber 77% hatten diese auch noch zum Zeitpunkt der Befragung, also noch Jahre später. Das ist eine beängstigend hohe Zahl.
23% gaben Beeinträchtigungen in den Händen und 28% moderate bis durchaus schwere Einschränkungen beim Gehen an.
Die CINP wurde von den Patienten unter den am stärksten belastenden Nebenwirkungen an 2. Stelle eingeordnet, und zwar nach Fatigue, die als das am stärksten belastende Symptom beurteilt wurde. Das wissen wir auch aus anderen Studien.
Das zeigt uns den dringenden Forschungsbedarf, zum einen beim Assessment der Symptome, aber auch für die Prävention und zur Verbesserung der Therapie.
Noch eine kurze Anmerkung: Patienten, die sich entsprechend der Bewegungsempfehlungen verhalten haben, hatten geringere polyneuropathische Beschwerden und gaben eine bessere Lebensqualität an.
Also: motivieren Sie Ihre Patienten zu mehr körperlicher Aktivität!
Risikofaktoren für eine CINP
Der zweite Abstract, den ich Ihnen aus dem Bereich CINP präsentieren möchte, stammt von einer Arbeitsgruppe um Ian Kleckner aus den USA [2]. Diese Arbeitsgruppe hat sich mit inflammatorischen und mit klinischen Risikofaktoren für eine Polyneuropathie beschäftigt. Bisher gibt es keine einfache Prädiktion.
Es gibt Nukleotid-Polymorphismen, die man heran ziehen kann. Das sind aber aufwendige Untersuchungen, die keiner macht. Die Kliniker hätten natürlich gerne für das Gespräch mit dem Patienten Tools, die die Vorhersage einer Polyneuropathie leichter machen.
Die Arbeitsgruppe hat 143 Patienten - davon 80% mit Mammakarzinom - vor und 6 Wochen nach einer neurotoxischen Chemotherapie mit Hilfe einer Rating Scale von 0 bis 10 untersucht. Bei der Hälfte der Patienten wurden auch inflammatorische Marker wie Interleukin-10, IL-1beta, IL-6, IL-8 oder Interferon gamma bestimmt.
Klinisch berücksichtigt wurde das Vorliegen eines Diabetes mellitus, das Tumorstadium, eine bestehende Polyneuropathie zur Baseline, Fatigue, Angst und depressive Symptomatik. Außerdem wurden die tägliche Schrittmenge ermittelt und demographische Parameter erhoben.
Die stärksten Prädiktoren für eine spätere Polyneuropathie waren Fatigue, Angst und depressive Symptomatik, eine platinhaltige Therapie, ein höheres Lebensalter sowie ein proinflammatorischer Status, also ein höheres IL-1beta oder ein niedrigeres IL-10. Es scheint also auch mit inflammatorischen Parametern einen Zusammenhang zu geben.
Wir können zumindest in der Aufklärung die Patienten für diese Art von Nebenwirkungen sensibilisieren, die auch lang anhalten können, wenn bestimmte klinische Symptome vorliegen.
Auch dies ist eine Arbeit, die uns zeigt, wie wichtig die weitere Forschung auf diesem Gebiet ist.
Akupunktur bei CINP
Der dritte Abstract zur Polyneuropathie thematisiert einen viel verfolgten Ansatz, nämlich die Akupunktur bei CINP. Er stammt von Andrew Wardley und Mitarbeitern aus Großbritannien [3].
Sie untersuchten in der randomisierten Phase-2-Studie ACUFOCIN den Effekt einer Akupunkturbehandlung über 10 Wochen. Eingeschlossen wurden Patienten, die schon eine CINP vom CTC-Nebenwirkungsgrad ≥ 2 hatten.
Primärer Endpunkt war die Verbesserung der Polyneuropathie nach 10 Wochen Akupunkturbehandlung. 120 Patienten wurden in die Studie eingeschlossen, 50% litten an einem Mammakarzinom, 40% an gastrointestinalen Tumoren.
Nach 10 Wochen Akupunktur wurde eine signifikante Verbesserung festgestellt. Die Schmerzkomponente bei der Polyneuropathie war signifikant verringert und die Lebensqualität, ermittelt durch den EORTC-QLQ-C30-Bogen, war signifikant verbessert. Dementsprechend planen die Autoren jetzt eine Phase-3-Studie.
Sie wiesen darauf hin, dass die Effekte bereits nach 6 Wochen erkennbar sind.
Neben regelmäßiger körperlicher Aktivität ist dies für mich ein viel versprechender Ansatz, unseren Patienten zu helfen, dass sie keine Alltags-beeinträchtigende Polyneuropathie entwickeln.
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Diesen Artikel so zitieren: Neuropathie: Wie man die zweithäufigste Nebenwirkung einer Krebstherapie in den Griff bekommt – neue Ergebnisse vom ASCO - Medscape - 12. Jun 2020.
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