Sterbefasten: Palliativmedizin entlastet Ärzte, Medizinethiker sieht „fadenscheinige“ Argumente, Staatsanwälte uneins

Christian Beneker

Interessenkonflikte

23. Oktober 2019

Suizid oder nicht? Mit einem Positionspapier will die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) Ärzte unterstützen, deren todkranke Patienten freiwillig auf Essen und Trinken verzichten wollen, um zu sterben [1].

„Immer wieder besteht Unsicherheit darüber, ob Ärzte sich beim freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken ihrer Patienten in den Bereich der verbotenen geschäftsmäßigen Förderung von Suizidbeihilfe begeben“, erklärt Heiner Melching, Geschäftsführer der DGP. Nach Ansicht der DGP tun Ärzte dies nicht.

Denn der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) sei keine Form des Suizids, sondern eine „Handlung sui generis“, so das Positionspapier, also eine eigene Handlungskategorie. „Es ist deshalb auch keine strafbare Handlung, den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken von Palliativpatient*innen medizinisch zu begleiten“, heißt es in dem DGP-Text.

Zudem kann in der Todesbescheinigung des nach FVET Gestorbenen als Todesursache „natürlicher Tod“ eingetragen werden. Bei einem Suizid hätte dagegen „unnatürlicher Tod“ eingetragen werden müssen, „was für die Ärzte immer schwierig werden kann“, so Melching.

Dem FVET fehlen die Merkmale eines Suizids, argumentiert die DGP. So beende der Verzicht das Leben nicht durch einen äußeren Eingriff. Es werde weder Gewalt angewandt noch würden Medikamente gegeben. FVET bewahre die körperliche Integrität und die Selbstbestimmung.

Zudem werde das Sterben nicht abrupt herbeigeführt, sondern zieht sich über einen unbestimmten Zeitraum hin. Im Laufe eines Teils dieser Zeit kann der Patient seine Entscheidung auch widerrufen. Zwar gelten diese Kriterien auch für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen. Aber auch hier kann der FVET nicht eingereiht werden, weil er keine medizinische Maßnahme sei, so die DGP.

„Die Ärzte brauchen sich keine Sorgen zu machen“

Mit dem §217 StGB hat der Gesetzgeber die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung verboten. Mit der Bewertung von FVET als Handlung sui generis ist dem §217 StGB ebenso Genüge getan wie der ärztlichen Berufsordnung. Sie verbietet die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zum Suizid. Ärzte sollen beim Sterben unterstützen, aber nicht zum Sterben. „Die behandelnden Ärzte brauchen sich bei FVET ihrer Patienten also keinen Sorgen zu machen“, sagt Melching.

Laut DGP geht es in dem Positionspapier vor allem um Patienten mit lebensbedrohlichen oder lebenslimitierenden Erkrankungen. Es sei nicht „ohne weiteres auf andere Gruppen übertragbar“.

Voraussetzung für den FVET ist es, dass sich die Patienten freiwillig und bewusst für diesen Schritt entscheiden. Hier müssen die betreuenden Teams sorgfältig prüfen und erkennen, ob der Patienten möglichweise aus einer psychiatrischen Grunderkrankung heraus Essen und Trinken verweigert. In diesem Fall wäre der FVET nicht mehr eine freie Entscheidung.

Umfrage bei Ärzten zum FVET

Tatsächlich bewerten Haus- und Palliativärzte den freiwilligen Verzicht offenbar sehr unterschiedlich. Das hat eine Studie des Göttinger Medizinethikers Prof. Dr. Alfred Simon ergeben.

Es hat nach eigenen Angaben mehrere hundert Ärzte gefragt, wie oft der FVET bei ihren todkranken Patienten überhaupt vorkommt. Das Ergebnis:

  • Gegenüber zwei Dritteln der befragten Ärzte sei dieser Patientenwunsch in den vergangenen 5 Jahren mindestens einmal geäußert worden.

  • Bei einem Fünftel aller befragen Ärzte kam dieser Patientenwunsch in den zurückliegenden 5 Jahren 5-mal vor.

„Es ist also ein Phänomen, mit dem man konfrontiert wird und das für die Sterbenden eine große Bedeutung hat“, so Simon zu Medscape.

 
Bei den meisten Befragten Ärzten stießen die Patientenwünsche tendenziell auf Zustimmung. Prof. Dr. Alfred Simon
 

Außerdem hat der Göttinger Medizinethiker auch nach der Zustimmung der Ärzte zum FVET gefragt. Die Befragten sollten ihre Zustimmung bei 4 verschiedenen Patienten mit FVET-Wunsch gewichten:

  • bei einem 55-jährigen Krebspatienten mit fortgeschrittener Erkrankung,

  • bei einem älteren Demenzpatienten,

  • bei einem nach einem Unfall querschnittgelähmten 40-jährigen Patienten und

  • bei einem älteren Menschen, der aus Lebenssattheit heraus sterben wollte.

„Bei den meisten Befragten Ärzten stießen die Patientenwünsche tendenziell auf Zustimmung“, so Simon. Die höchste Zustimmungsrate hatte der Krebspatient, die niedrigste der lebenssatte Mann.

Zudem ergab die Studie, dass Ärzte, die dem assistierten Suizid eher offen gegenüberstehen, deutlich höhere Zustimmungsraten hatten und kaum zwischen den verschiedenen Patienten unterschieden.

Ärzte, die den assistierten Suizid ablehnen, dagegen stimmten oft dem Wunsch des Krebspatienten zu, deutlich seltener aber bei den anderen 3 Patienten. „Das bedeutet, dass die Ärzte, die den assistierten Suizid ablehnen, auch in im Wunsch nach FVET eher eine Form des Suizids sehen“, folgert Simon.

„Die Haltung der DGP ist fadenscheinig“

Allerdings sieht Simon im freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken keine eigene Handlungskategorie, „sui generis“, wie die DGP, sondern hält diese Bewertung für eine bloße Setzung. „Die Haltung der DGP ist fadenscheinig vom Endergebnis her gedacht“, sagt Simon zu Medscape. „Man will sicherstellen, dass die Begleitung der fraglichen Patienten keine Suizidhilfe ist und man am Ende im Totenschein natürliche Todesursache ankreuzen kann“, so Simon.

 
Die Haltung der DGP ist fadenscheinig vom Endergebnis her gedacht. Prof. Dr. Alfred Simon
 

Auch nach Simons Ansicht ist die Linderung der Symptome des Sterbefastens keine Förderung der Selbsttötung. Die Frage sei aber, „ob man beim begleiteten Sterbefasten eine gewisse Kontrolle haben will, oder ob wir sagen wollen – die brauchen wir nicht“, so Simon.

Uneinheitliche Staatsanwaltschaften

Dessen ungeachtet verhalten sich die Staatsanwaltschaften in diesem Punkt uneinheitlich, sagt Simon. In Göttingen erlauben sie es, nach FVET den natürlichen Tod auf dem Totenschein anzukreuzen, in München müsse hier nicht natürlicher Tod angekreuzt werden, so Simon: „Es geht um Transparenz, weshalb es auch in Göttingen auf dem Totenschein vermerkt werden sollte, wenn ein Patient unter FVET gestorben ist.“

Noch in diesem Jahr will sich das Bundesverfassungsgericht (BVG) zum Thema Sterbehilfe äußern, sagt ein Sprecher des BVG. „Es liegen verschiedene Verfassungsbeschwerden gegen den §217 StGB von Sterbehilfevereinen, Anwälten und Ärzten vor.“ In diesem Zusammenhang werde es auch um Abgrenzungsfragen des Sterbefastens gehen.

 

Kommentar

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