Im baden-württembergischen Spiegelberg im Rems-Murr-Kreis wurde jetzt die erste Arztpraxis ohne Arzt in Deutschland eröffnet. Persönlichen Kontakt hat der Patient nur mit medizinischen Fachangestellten, die über Telemedizin einen Arzt hinzuziehen können und die Ergebnisse der Untersuchung digital an den Arzt übermitteln. Mit 4 Sprechstunden pro Tag will die Praxis zunächst starten.
Die Fernbehandlung übernimmt der Allgemeinmediziner Jens Steinat aus dem 10 Kilometer entfernten Oppenweiler. „Wir wollen unseren Patienten ergänzend eine zukunftsfähige und innovative Versorgung mit telemedizinischen Möglichkeiten, aber auch den jederzeit möglichen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt bieten“, sagt Mediziner Steinat im Magazin Gründerszene.
2018 hatte der Deutsche Ärztetag die Muster-Berufsordnung gelockert und die Fernbehandlung von Patienten zugelassen. An diese Vorgabe schloss sich die Mehrheit der Landesärztekammern an. Telemedizinische Leistungen können seit einigen Monaten über die kassenärztlichen Vereinigungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden.
Pilotprojekt an 2 Standorten
Neben der Praxis in Spiegelberg soll dieses Pilot-Projekt des Heidelberger Unternehmens PhilonMed GmbH in einer zweiten Praxis, in Zweiflingen (Hohenlohekreis), laufen. Der Bund unterstützt das Projekt. Die Praxis ohne Arzt ist eine Idee von Dr. Tobias Gantner. Der Mediziner, Jurist und Gesundheitsökonom ist Gründer von HealthCare Futurists.
„Unser Ziel ist, ein ‚Continuum of Care‘ auch unter den Bedingungen in ländlichen Regionen aufrechtzuerhalten“, erklärt Gantner, ebenfalls Gründer der HealthCare Futurists und Geschäftsführer von PhilonMed gegenüber e-health . Er fügt hinzu: „Die Patienten sollen nicht mit irgendeinem Arzt konfrontiert werden, der bei einem Telemedizin-Anbieter zufällig Dienst hat. Sie behalten den Arzt, den sie kennen, bekommen ihn aber nicht jedes Mal persönlich zu Gesicht.“
Untersuchungsergebnisse werden digital an den Arzt übertragen
Die Praxen werden von speziell ausgebildete medizinischen Fachangestellten geleitet, die in der Region verwurzelt sind. Sie bieten diagnostische und therapeutische Maßnahmen an, die mit dem jeweiligen Arzt abgesprochen sind. „Sie kann zum Beispiel 12-Kanal-EKGs aufzeichnen, Herztöne aufnehmen, ein Otoskop bedienen und viele andere diagnostische Prozeduren durchführen“, berichtet Florian Burg, der Projektleiter gegenüber e-health .
Telemedizinische Geräte erlauben es Haus- und Fachärzten, sowohl eine Videosprechstunde mit Patienten abzuhalten als auch eine Vielzahl diagnostischer Verfahren telemedizinisch durchzuführen. Der Arzt kann das EKG ansehen, Herztöne anhören oder den Otoskopie-Befund nachvollziehen.
Dazu würden z.B. moderne digitale Medizinprodukte wie das Stethoskop StethoMe eingesetzt, die in Europa zwar zugelassen, aber bisher oft noch nicht ohne Weiteres verfügbar seien, so Burg. StethoMe ist ein kleines, drahtloses Stethoskop, das mit einer Smartphone-App gekoppelt ist. Dem Anwender wird mitgeteilt, wo er das Stethoskop richtig positionieren soll und die Audiodaten werden aufzeichnet. Dann wird die Aufnahme von einer KI entschlüsselt, die darauf trainiert ist, Atem- und Herzgeräusche zu analysieren. Die verarbeiteten Informationen werden dann an einen Arzt geschickt.
Ein Mittel gegen Ärztemangel?
Die KBV hat ermittelt, dass die Nachfrage nach ärztlicher Versorgung bis zum Jahr 2030 moderat steigen, das ärztliche Angebot aber sinken wird. Besonders betroffen sind dabei die Gruppe der Hausärzte und der sogenannten fachärztlichen Grundversorger.
Vor allem niedergelassene Ärzte im hausärztlichen Bereich haben Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden. Die Gründe sind vielfältig, schreibt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und nennt Budgetierung, zunehmende Bürokratisierung und eine schwache Infrastruktur auf dem Land.
Hinzu kommt: Bundesweit waren schon 2015 rund 32% der Hausärzte (17.276) über 60 Jahre alt, 38% sind zwischen 50 und 60 Jahre alt. In Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern sind über ein Drittel der Hausärzte über 60 Jahre alt. Die „Praxis ohne Arzt“ – eine Möglichkeit, dem Hausärztemangel auf dem Land etwas entgegen zu setzen?
Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Gerd Glaeske findet das System grundsätzlich sinnvoll: „Es müssen gut ausgebildete medizinische Fachangestellte sein, die sich das anschauen und bei leichteren Erkrankungen, bei Magenverstimmungen, bei Verstauchungen oder bei Husten-Schnupfen-Heiserkeit auch Ratschläge geben können“, sagt der Bremer Gesundheitsökonom dem SWR .

Prof. Dr. Gerd Glaeske
Es gebe eine ganze Reihe von Symptomen, die auch behandelt werden können, ohne dass große Diagnostik in Gang gesetzt werden muss. „Da kommt es sehr darauf an, dass die medizinischen Fachangestellten, die in den Praxen sitzen, eine hohe Erfahrung haben. Denn die müssen entscheiden können, ob eine Ärztin eingebunden werden muss, oder nicht.“
Glaeske bezweifelt, dass es in Deutschland aktuell schon genügend medizinische Fachangestellte gibt, die solche Entscheidungen treffen können. Damit das System der Praxis ohne Arzt funktioniere, brauche es vermehrt Fortbildungen. „Wenn man den Bedarf erkennt, dass das eine Lösung sein könnte, die Versorgung auf dem Land sicherzustellen, wäre das neuer Anreiz, sich diese medizinische Kompetenz zu erwerben.“
Medscape Nachrichten © 2019
Diesen Artikel so zitieren: Dr. Digital: Pilotprojekt zur „Arzt-freien Praxis“ gestartet – ein Rezept gegen Ärztemangel auf dem Land? - Medscape - 23. Okt 2019.
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