Fast jeder zweite Großstadtbewohner in Europa (44%) atmet mehr Feinstaub ein, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt. Beim Ozon sind es sogar fast alle (96%). In der Folge kommt es zu Hunderttausenden vorzeitigen Todesfällen.
Das geht aus dem Air Quality Report 2019 hervor, den die Europäische Umweltagentur EEA veröffentlicht hat [1]. Zwar hat sich die Luftqualität seit der Jahrtausendwende in Europa verbessert. Dennoch werden die empfohlenen Schadstoffwerte immer noch an vielen Stellen überschritten – selbst die EU-Grenzwerte, die viele Gesundheitsexperten als zu hoch kritisieren.
Klares Ost-West-Gefälle bei Feinstaub
Der Report erfasst Daten aus allen europäischen Ländern (nicht nur aus der EU) und der Türkei für die Jahre 2000 bis 2017. Geprüft wurde, ob die EU-Richtlinien zur Luftqualität und die (teils strengeren) WHO-Grenzwerte eingehalten wurden.
Bei Feinstaub (≤10 μm) werden die EU-Tageshöchstwerte an 22% der Mess-Stationen in Europa überschritten. 23 Staaten halten sie nicht durchgehend ein. Der strengere WHO-Grenzwert für die langfristige Feinstaub-Belastung wird sogar an jeder 2. Mess-Station überschritten (51%). Nur Estland, Finnland und Norwegen sind hier nicht betroffen. Es zeigt sich zudem ein klares Ost-West-Gefälle: Osteuropäische Länder wie Polen, Bulgarien oder auch die Türkei haben eine deutlich höhere Feinstaub-Belastung, ebenso Norditalien.
Für Stickoxid werden die Werte an 10% der Mess-Stationen überschritten (EU- und WHO-Grenzwert sind identisch). 7% der städtischen Bevölkerung sind dadurch belastet.
Schlechter sieht es bei Ozon aus: Hier wird der EU-Grenzwert an jeder 5. Station überschritten, der strengere WHO-Grenzwert sogar an fast allen Stationen (95%). 96% der städtischen Bevölkerung atmen demnach zu viel Ozon ein. Dieser Wert hat sich seit 2000 auch nicht wesentlich verbessert. Vor allem Italien, Slowenien und Kroatien sind belastet.
Als problematisch stuft die EEA auch die Belastung mit Benzo(a)pyren ein, einem krebserregenden Stoff, der sich vor allem in Autoabgasen, Zigarettenrauch oder Teer findet. Auch hier sind vor allem osteuropäische Länder belastet.
Allerdings haben fast alle Länder, auch Deutschland, Hotspots, an denen der gesundheitlich empfohlene Grenzwert (bezogen auf das Risiko für Lungenkrebs) überschritten wird.
Feinstaub hat die gravierendsten Folgen
Diese zu hohen Schadstoffbelastungen haben Folgen. Die EEA hat berechnet, wie viele Menschen aufgrund der Luftverschmutzung vorzeitig sterben und wie viele Lebensjahre dadurch verloren gehen („years of life lost“ YLL):
Die drastischsten Auswirkungen hat Feinstaub: Er führt zu 412.000 vorzeitigen Todesfällen in Europa (Partikelgröße ≤ 2,5 μm) und 4,223 Millionen YLL.
Stickstoffdioxide kosten 71.000 Menschenleben (707.000 YLL),
Ozon 15.100 (160.000 YLL).
Die Zahlen für die einzelnen Stoffe können laut EEA nicht addiert werden, weil sich die Gruppen der belasteten Personen überlappen. Die Menschen sterben also beispielsweise, weil sie Feinstaub und Stickoxide eingeatmet haben.
Hauptquellen der Luftschadstoffe sind laut EEA der Verkehr, „Kleinfeuerungsanlagen“ in Gewerbe und Haushalten (beispielsweise Ölheizungen und Kamine), Energieerzeugung, Industrie, Landwirtschaft (Ammoniak ist auch ein Vorläuferstoff für Feinstaub) und Abfall.
EU setzt WHO-Empfehlung nicht um
„Die gute Nachricht ist, dass die Gesundheitsfolgen durch Luftverschmutzung mit Feinstaub in Deutschland und auch in Europa in den letzten Jahren insgesamt leicht abgenommen haben“, sagt Prof. Dr. Barbara Hoffmann, Leiterin der Abteilung Umweltepidemiologie am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, „kaum abgenommen haben dagegen die Gesundheitsfolgen durch Stickstoffdioxide. Diese Zahlen belegen sehr eindrücklich, dass wir noch weit entfernt sind von einem wirklich ausreichenden Gesundheitsschutz der Bevölkerung.“
Dabei könnten nicht eine einzelne Maßnahme das Problem lösen – es müsse bei allen Verursachern angesetzt werden. Konkret heiße das: „Emissionsarmer Verkehr, vor allem in den Städten, soweit wie möglich mit Fahrrad und ÖPNV, emissionsarme Energieerzeugung, Verminderung der Gülle-Ausbringung in der Landwirtschaft.“
Die meisten dieser Maßnahmen dienten nicht nur der Gesundheit, sondern auch dem Klimaschutz: „Es handelt also um eine klassische Win-win-Situation.“
Experten kritisieren seit längerem, dass die EU-Grenzwerte für Feinstaub zu hoch angesetzt sind. Für Partikel kleiner oder gleich 2,5 μm empfiehlt die WHO höchstens 10 Mikrogramm pro Kubikmeter.
„Seit Jahren weigert sich die EU, diesen Richtwert gesetzlich zu verankern“, sagt Prof. Dr. Nino Künzli, stellvertretender Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts in Basel, „stattdessen hat sie den von Lobbyisten propagierten – viel zu hohen – Jahresmittelwert von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter in der Direktive verankert – auch heute noch. Wäre die Luftreinhaltepolitik der EU schon vor 20 Jahren den Forderungen der Wissenschaft gefolgt, lägen heute auch die Feinstaub-Belastungen tiefer.“
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Diesen Artikel so zitieren: Bericht der Europäischen Umweltagentur: Hunderttausende Europäer sterben vorzeitig an Feinstaub, Ozon und Stickoxiden - Medscape - 22. Okt 2019.
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