Studie deckt auf: Viele Pflegeheim-Bewohner landen ohne vorherigen Kontakt zum Arzt (wahrscheinlich unnötig) im Krankenhaus

Christian Beneker

Interessenkonflikte

22. Oktober 2019

Nur 35% aller Pflegeheim-Bewohner, die in die Notaufnahme eines Krankenhauses eingeliefert wurden, hatten vor der Einlieferung noch Kontakt zu ihrem Hausarzt. Ein solcher Kontakt hätte womöglich einige der Einweisungen verhindert.

Das ist ein Ergebnis einer Studie, die vom Institut for Public Health und Pflegeforschung (IPP) in Bremen und der Fakultät Medizin und Gesundheitswissenschaften der Universität Oldenburg in 14 Pflegeheimen in Bremen und Umland vorgenommen wurde.

802 Bewohner haben die Studienautoren erfasst. Die Hälfte der Heimbewohner war dement, ein Viertel über 90 Jahre alt. Insgesamt registrierten die Forscher 627 Fälle von Krankenhausaufenthalten, davon 534 ungeplante Einweisungen. „Im statistischen Mittel gesehen sind es 0,78 Ereignisse dieser Art pro Bewohnerin oder Bewohner im Jahr“, erklärt Dr. Guido Schiemann, Hausarzt und Wissenschaftler am IPP.

Die häufigsten Gründe für die ungeplante Verlegung ins Krankenhaus waren eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes (35%), Stürze, Unfälle oder Verletzungen (34%), psychische oder neurologische Gründe sowie Katheter-Probleme (7%) und Schmerzen ohne Sturz (6%), außerdem z.B. plötzliches Erbrechen oder entgleiste Blutwerte, erklärt Alexandra Pulst, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IPP.

In 65 Prozent der Fälle war kein Hausarzt involviert

Die Pflegeheimbewohner würden zu oft ins Krankenhaus gebracht, meint Schmiemann. Tatsächlich war in nur 35% der Fälle ein Hausarzt im Vorfeld der Einweisungen involviert. So gab es in den 48 Stunden vor der Einweisung in 21% der Fälle telefonischen Kontakt zum Hausarzt und in 14% einen persönlichen Besuch des Hausarztes im Pflegeheim. In rund 16% der Fälle hatte der Rettungsdienst zuvor Kontakt mit den später eingewiesenen Patienten und in 7% der Bereitschaftsdienst. In der Hälfte der Fälle wurde die Arztpraxis gar nicht informiert, wenn ein Patient Symptome aufwies.

„Die ärztliche Perspektive wird umgangen“, resümiert Schmiemann. Es fehle an der Kommunikation zwischen Hausarzt und Pflegeheim. Oft wählen die Beteiligten den einfachsten Weg und schicken den Patienten ins Krankenhaus, obwohl er unter Umständen auch symptomatisch hätte versorgt werden können. „Es wäre hilfreich, wenn Praxis und Heim dieselben Informationen hätten. Die gleiche Akte, den gleichen Medikamentenplan“, sagt der Versorgungsforscher.

 
Die ärztliche Perspektive wird umgangen. Dr. Guido Schiemann
 

Schmiemann verweist auch auf ein strukturelles Problem: „Der Pflegedienst ruft die 112. Der Disponent, der den Anruf entgegennimmt, haftet persönlich für seine Entscheidung, also wird er im Zweifel eher einen Rettungswagen alarmieren. Der wird für Leerfahrten in den meisten Regionen nicht bezahlt, also nimmt er im Zweifel den oder die Bewohnerin des Pflegeheims mit. Das ist ein Automatismus. Wir müssen Wege finden, wie wir da herauskommen.“

Schmiemann begrüßt darum die Pläne, die „112“ mit der „116117“ zusammenzulegen und ebenso die neue Regelung, auch die Leerfahrten der Rettungswagen zu vergüten. So fällt der Anreiz weg, Patienten einzig wegen des Honorars zu transportieren und nicht ausschließlich aus medizinischen Gründen.

Heimarzt oder Back-Up für den Rettungsdienst

Möglich wäre es auch, einen Back-up für den Rettungsdienst vorzuhalten, schlägt der Bremer Versorgungsforscher vor. „Bei Unsicherheiten in der Beurteilung von Notfall-Anrufern kann der Rettungsdienst, bevor er sich auf den Weg macht, mit einem immer verfügbaren Arzt sprechen“, so Schmiemann. So könnten überflüssige Einweisungen von Pflegeheimbewohnern vermieden werden.

Dass vermehrte Präsenz von Hausärzten in den Pflegeheimen die Zahl der Krankenhauseinweisungen der Bewohner drückt, liegt nahe. Bewiesen haben es Ärztenetze wie zum Beispiel das Netz „Elan“ aus Winsen an der Luhe in Niedersachsen. Bis 2018 hatte war das Netz mit einem Pflegeheim vertraglich verbunden. Da konnten die Einweisungen um rund die Hälfte reduziert werden, berichtet Dr. Rainer Hennecke, Hausarzt aus Winsen.

Seit rund einem Jahr kooperieren die Praxen direkt mit den Heimen, um die hausärztliche Versorgung sicherzustellen. So schickt etwa eine Praxis im Wechsel wöchentlich eine Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (VERAH) in die Heime und einen Hausarzt, berichtet Hennecke. Zudem rufen die Pflegekräfte im Zweifel zuerst bei der Hausarztpraxis an und nach Praxisschluss beim Bereitschaftsdienst. „Noch haben wir nicht evaluiert. Aber gefühlt gehen auch hier die Einweisungen zurück“, so Hennecke zu Medscape.

Ob die Krankenhauseinweisungen der Bremer Pflegeheimbewohner indessen tatsächlich nötig waren, konnte die Studie nicht erheben. Eine Befragung der Pflegenden ergab aber: Nur 4% der Einweisungen sahen die Pflegekräfte als vermeidbar an. „Diese Zahl hatten wir viel höher eingeschätzt“, sagt Pulst und verwies auf – allerdings sehr auseinanderklaffende – Zahlen aus dem Ausland: „Dort werden zwischen zwei und 67 Prozent der Fälle als vermeidbar eingeschätzt. Vermutlich wird Vermeidbarkeit sehr unterschiedlich definiert.“

 

Kommentar

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