Zu viel Diagnostik, zu wenig Beratung und Therapie: Projekt zur besseren Kopfschmerz-Versorgung in Hausarztpraxen startet

Maren Schenk

Interessenkonflikte

15. Oktober 2019

Mannheim – „Wir haben große Fortschritte in der Kopfschmerzbehandlung gemacht“, konstatierte PD Dr. Stefanie Förderreuther, Präsidentin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG), während des Deutschen Schmerzkongresses in Mannheim [1]. Zum Beispiel bei der Migräne: Ein immer besseres Verständnis der Pathophysiologie führte zur Entwicklung der CGRP (Rezeptor)-Antikörper mit derzeit 3 Substanzen.

PD Dr. Stefanie Förderreuther

Die an der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München tätige Ärztin merkte aber auch an „Wir wissen aus zahlreichen Untersuchungen: Die Kopfschmerzversorgung in Deutschland ist verbesserungswürdig. Patienten erhalten typischerweise zu viel Diagnostik und zugleich zu wenig Beratung und Therapie.“

Bundesweite Initiative

Um hier Abhilfe zu schaffen, müsste vor allem die Grundversorgung bei Haus- und Allgemeinärzten verbessert werden. Daher initiierte die DMKG eine bundesweite Initiative, die das Bewusstsein für Kopfschmerzerkrankungen im ersten Schritt für Ärzte, aber dann auch für Patienten erhöhen soll: „Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen“.

 
Patienten erhalten typischerweise zu viel Diagnostik und zugleich zu wenig Beratung und Therapie. PD Dr. Stefanie Förderreuther
 

„Unser Anliegen ist: Hausärzte sollen mehr Wissen an die Hand bekommen, um zum Beispiel zu entscheiden: Welche Patienten kann ich selbst behandeln, welche Patienten muss ich zum Facharzt überweisen?“, erklärte die Präsidentin der DMKG. Der Vorteil der Hausärzte sei, dass sie die medizinische Vorgeschichte und das soziale Umfeld ihrer Patienten viel besser kennen als der Spezialist.

„In der ersten Stufe sprechen wir Ärzte an. Später wollen wir dann auch Patienten mobilisieren, wieder Hilfe beim Arzt zu suchen – gerade die Kopfschmerz-Patienten, die denken: ,Mir kann keiner helfen‘“, sagte Förderreuther.

Mit ihrem Online-Auftritt bietet die Initiative webbasiert Fortbildungsangebote sowie Weiterbildungsveranstaltungen an und unterstützt den Aufbau von Kooperationen zwischen Primärversorgern und Spezialisten. „Unser Ziel ist es, dass alle Patienten, die eine professionelle Therapie benötigen, schnellstmöglich die bestmögliche und angemessene Therapie erhalten“, so Förderreuther. Die DMKG bietet auch eine Fortbildung für medizinische Fachangestellte und Arzthelferinnen zur „Headache Nurse“ an.

Ein großes Problem sei beispielsweise, dass viele Patienten Schmerzmittel für den Bedarfsfall mehr als 10 Tage pro Monat einnehmen und dadurch ihren Kopfschmerz chronifizieren. Laut Angaben der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) leben in Deutschland bis zu einer halben Million Menschen mit einem medikamenteninduzierten Kopfschmerz wegen Übergebrauchs von Schmerzmitteln.

„Patienten, die zu viele Akutmedikamente einnehmen, wissen zwar um mögliche Schäden für Nieren oder Leber. Was sie nicht ahnen, ist, dass sie viel häufiger durch die Medikamente ihren Kopfschmerz verstärken und chronifizieren“, so Förderreuther. „Wir wollen mehr nicht medikamentöse und medikamentöse prophylaktische Therapien statt zu viel Akutmedikation“, sagte die Neurologin.

Deutschlandweites Kopfschmerzregister startet Ende des Jahres

Ein weiteres Projekt der DMKG wurde während des Schmerzkongresses vorgestellt: ein deutschlandweites Kopfschmerzregister. Es soll teilnehmende Ärzte und Patienten bei der Diagnostik, Therapieplanung und -kontrolle unterstützen sowie einen Beitrag zur Versorgungsforschung leisten.

 
Wir wollen mehr nicht medikamentöse und medikamentöse prophylaktische Therapien statt zu viel Akutmedikation.  PD Dr. Stefanie Förderreuther
 

„Patienten können zuhause vor dem Arztbesuch Daten eingeben, wie laufende Medikation und Vorbehandlungen, oder einen Kopfschmerz-Kalender über eine App ausfüllen“, erklärte Förderreuther. Dies helfe dem Arzt bei der Therapieplanung, denn er kann auf die Daten zugreifen (wenn es der Patient erlaubt). „So hat der Arzt schon vor dem Patientenbesuch einen Überblick über die Krankengeschichte und Begleiterkrankungen und dadurch mehr Zeit für Beratungsgespräche.“ Außerdem lasse sich so leichter die Therapie planen.

Das webbasierte Register soll Ende dieses Jahres starten. In der Pilotphase werden ausgewählte Praxen und Ambulanzen teilnehmen. „Wenn es läuft, werden wir das Register nächstes Jahr für viele Niedergelassene erweitern“, so Förderreuther

Verschiedene Kopfschmerzformen: Tipps zu Diagnose und Therapie

Wichtig für die Therapie ist zunächst, die Form des Kopfschmerzes zu identifizieren. Die DMKG hat dazu eine Pressemitteilung herausgegeben.

Viele primäre Kopfschmerzformen können einen episodischen und chronischen Verlauf haben. Chronische Verlaufsformen sind definiert als Kopfschmerzen, die an mehr als 15 Tagen im Monat auftreten und über eine Dauer von mindestens 3 Monaten bestehen. Chronische Verläufe entwickeln sich in den meisten Fällen aus einem primär episodischen Verlauf (Internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen).

Sehr häufig: Spannungskopfschmerz

Besonders verbreitet ist der Spannungskopfschmerz. Die Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinbevölkerung beträgt verschiedenen Studien zufolge bis 78%. Klinisch ist der Kopfschmerz vom Spannungstyp vor allem durch das Fehlen besonderer Merkmale gekennzeichnet. Meist beschreiben die Patienten ihn als milden bis maximal mittelschweren Schmerz mit dumpf-drückendem Charakter, der den ganzen Kopf betrifft.

Vegetative Zeichen wie Lärm- oder Lichtempfindlichkeit fehlen meist völlig oder sind sehr gering ausgeprägt. Normale körperliche Betätigung führt zu keiner Verstärkung, auch Übelkeit und Erbrechen fehlen. Meist handelt es sich dabei um Kopfschmerzen mit einer Dauer von 30 Minuten bis 7 Tage.

Im Gegensatz zur sporadischen Form des episodischen Spannungskopfschmerzes, bei welcher der Schmerz die Patienten im Durchschnitt an weniger als 12 Tagen im Jahr beeinträchtigt, besteht bei der häufig auftretenden Form, die mindestens einmal bis maximal 14 Mal pro Monat auftritt, ein erhöhtes Risiko der Chronifizierung.

  • Beim Spannungskopfschmerz haben sich zur Akuttherapie Acetylsalicylsäure (ASS), Paracetamol sowie Ibuprofen bewährt.

Die Behandlung des akuten Spannungskopfschmerzes mit Opiaten ist wegen der Nebenwirkungen und insbesondere des Abhängigkeitspotenzials nicht indiziert.

Manchmal schwer zu unterscheiden: Migräne und Spannungskopfschmerz

Die diagnostische Schwierigkeit bei den primären Kopfschmerz-Erkrankungen besteht in der Abgrenzung eines Kopfschmerzes vom Spannungstyp von einer nur leichten oder früh behandelten Migräne. Die Abgrenzung gelingt leichter, wenn man die Patienten fragt, wie sich der Kopfschmerz und die Begleitsymptome unbehandelt entwickeln. Migräne wird von Ärzten und Patienten oft mit einem Spannungskopfschmerz verwechselt, da mehr als 2 Drittel der Migräniker zu Beginn der Attacke Nackenschmerzen verspüren und das immer wieder als Hinweis auf einen Spannungskopfschmerz fehlinterpretiert wird (S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie DGN zur Migräne).

Stark beeinträchtigend: Migräne

Im Gegensatz zum Spannungskopfschmerz tritt der Migränekopfschmerz eher einseitig auf. Patienten beschreiben die Schmerzen häufig als pochend oder pulsierend und als mäßig bis stark intensiv. Die Attacken bahnen sich langsam an und dauern 4 bis 72 Stunden. Charakteristisch ist auch, dass sie sich bei normalen körperlichen Aktivitäten wie Treppensteigen verstärken. Fast immer werden die Schmerzen von Symptomen wie Übelkeit und/oder Erbrechen sowie Licht- und Geräuschüberempfindlichkeit begleitet. Rund 20% der Patienten haben auch Auren, meist vor Einsetzen der Kopfschmerzen.

  • In der Akuttherapie von Migräneattacken kommen bei leichten bis mittelgradigen Schmerzen in erster Linie peripher wirksame Analgetika beziehungsweise nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) zum Einsatz.

  • In der Behandlung schwerer Migräneattacken oder bei unzureichendem Ansprechen auf die genannten Schmerzmittel sind Triptane am wirksamsten. Allerdings dürfen Triptane und Schmerzmittel nicht an mehr als 9 Tagen pro Monat eingenommen werden.

Bei einer Frequenz von mehr als 3 Attacken pro Monat oder bei weniger Attacken, die mit der Akutmedikation nicht ausreichend beherrscht werden können, ist eine Prophylaxe sinnvoll. Sie beugt u.a. der Entstehung eines medikamentös induzierten Dauerkopfschmerzes vor.

  • Die Wirksamkeit der Betablocker Metoprolol und Propranolol, des Kalzium-Antagonisten Flunarizin, der Antikonvulsiva Topiramat und Valproinsäure und des trizyklischen Antidepressivums Amitriptylin sind in der Migräneprophylaxe am besten durch randomisierte Studien belegt.

  • Liegt eine chronische Migräne mit mehr als 15 Kopfschmerztagen pro Monat vor, ist auch die Wirkung von Botulinumtoxin in der Prophylaxe gesichert.

  • Inzwischen sind zudem mehrere Antikörper gegen CGRP (Calcitonin Gene-related Peptide) oder den CGRP-Rezeptor zur Migräneprophylaxe zugelassen (wir berichteten). Voraussetzung für die Verordnung dieser Antikörper sind mehr als 4 Migränetage pro Monat. Für die Kostenerstattung müssen zusätzlich bei episodischer Migräne mindestens 4, bei chronischer Migräne 5 Vortherapien erfolglos, kontraindiziert oder unverträglich gewesen sein.

Jede medikamentöse Therapie sollte durch nicht medikamentöse Verfahren ergänzt werden. Regelmäßiger Ausdauersport hilft, Migräneattacken vorzubeugen. Auch Entspannungsverfahren und Stressmanagement haben sich in der Prophylaxe als wirksam erwiesen. Die nicht medikamentösen Verfahren aus der Verhaltenstherapie können so wirksam sein, dass sie sogar als Alternative zur medikamentösen Prophylaxe eingesetzt werden können.

Stiefkind der Medizin: Cluster-Kopfschmerz

Cluster-Kopfschmerzen zählen zu den schwersten Kopfschmerzerkrankungen. Im Durchschnitt dauert es nach einer Erhebung der Cluster-Kopfschmerz-Selbsthilfegruppen (CSG e.V.) in Deutschland mehr als 8 Jahre, bis bei den Patienten die richtige Diagnose gestellt und eine gezielte Behandlung in die Wege geleitet wird. Unbehandelt haben chronische Cluster-Kopfschmerzen aufgrund ihrer Schwere oft soziale Isolation, Persönlichkeitsänderungen und Depressionen bis hin zu suizidalen Gedanken zur Folge.

Patienten klagen über einen streng einseitigen extremen Schmerz mit einem Schmerzmaximum hinter dem Auge. Die Attacken dauern zwischen 15 und 180 Minuten an. Die Schmerzen werden durch mindestens eines der folgenden Symptome begleitet, die auf der gleichen Seite auftreten wie der Kopfschmerz: Augenrötung, Augentränen, verstopfte oder laufende Nase, vermehrtes Schwitzen im Bereich des Gesichts, Verengung der Pupille, Hängen des Augenlids, körperliche Unruhe und Bewegungsdrang.

Bei der episodischen Verlaufsform können die Attacken mit einer Frequenz von 1 Mal alle 2 Tage bis zu 8 Mal täglich vorkommen. Die Attacken treten in einer Episode gehäuft auf, oft immer zu denselben Uhrzeiten, man spricht deshalb von einem Cluster. Zwischen den Episoden gibt es unterschiedlich lang anhaltende kopfschmerzfreie Zeiten. Eine primär episodische kann in eine chronische Verlaufsform übergehen, bei der extreme Schmerzattacken nahezu täglich auftreten.

  • Die Cluster-Kopfschmerzattacke wird durch Inhalation von reinem Sauerstoff oder durch die Gabe eines schnell wirksamen Triptans als Spritze unter die Haut oder als Nasenspray behandelt.

Die Prophylaxe erfolgt mit Verapamil, Lithium oder Topiramat, vorübergehend können auch Kortison und lang wirksame Triptane verordnet werden.

MOH: Wenn Patienten von Schmerzmitteln abhängig werden

Eine gute Beratung und fachgerechte Behandlung von Kopfschmerz-Patienten ist auch deshalb so wichtig, weil zu oft, zu lange oder zu hoch dosierte Schmerz- und Migränemittel vorbestehende Kopfschmerzen verstärken und in einen chronischen Kopfschmerz aufgrund von Schmerzmittel-Übergebrauch verwandeln können (Medication Overuse Headache MOH).

Von einem MOH spricht man, wenn Patienten mit vorbestehenden primären Kopfschmerzen, wie etwa Migräne oder Kopfschmerz vom Spannungstyp, über mindestens 3 Monate an mindestens 15 Tagen im Monat unter Kopfschmerzen leiden und an mehr als 14 Tagen monatlich ein Schmerzmittel oder an mehr als 9 Tagen Migränemittel wie Triptane oder Mutterkorn-Akaloide oder verschiedene andere Schmerzmittel in Kombination einnehmen (S1-Leitlinie der DGN und DMKG zum Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln).

Weltweit leiden 0,7 bis 1% der Bevölkerung unter Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln, in Deutschland also mindestens eine halbe Million Menschen. Das Krankheitsbild ist häufiger bei Frauen, bei Patienten mit Depressionen, Angsterkrankungen oder anderen chronischen Schmerzen, wie etwa Rückenschmerzen.

Die Leitlinie der DGN und DMKG empfiehlt ein 3-stufiges Vorgehen bei der Therapie dieser Form des Kopfschmerzes.

  • Die erste Maßnahme sollte stets in der Schulung und Beratung von Patienten liegen – mit dem Ziel, die Einnahme von Akutmedikamenten zu reduzieren.

  • Der zweite Schritt ist eine medikamentöse Prophylaxe der zugrunde liegenden Kopfschmerzerkrankung.

Falls diese Therapie nicht wirkt, sollte als dritter Schritt eine Medikamentenpause angestrebt werden. Ein solcher Entzug kann ambulant, tagesklinisch oder stationär durchgeführt werden. Bei 70 bis 80% der Patienten mit Kopfschmerzen durch Medikamenten-Übergebrauch gelingt eine solche Entgiftung.

Wichtig: Einen möglichen Notfall erkennen

Wichtig ist es auch, in der hausärztlichen Praxis zu erkennen, ob es sich um einen primären oder einen sekundären Kopfschmerz handelt, d.h. ob er als Folge einer anderen Erkrankung auftritt, die möglicherweise lebensbedrohlich ist. Zu den wichtigsten Fragen gehören:

  • Kennen Sie diesen Kopfschmerz schon?

  • Ist der Schmerz vernichtend heftig und hat er diese Intensität in weniger als 2 Minuten erreicht?

  • Haben Sie gleichzeitig Fieber oder neurologische Ausfallsymptome wie etwa eine Lähmung oder eine vorübergehende Erblindung eines Auges?

Auch das Wissen um Begleiterkrankungen ist wichtig – und nicht zuletzt natürlich die körperliche Untersuchung des Patienten.
 

Kommentar

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