Kurzsichtigkeit bei Kindern lässt sich aufhalten: Augentropfen mit Atropin werden zunehmend off-label verschrieben

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

11. Oktober 2019

Berlin – Die Erkenntnis, dass ins Auge getropftes Atropin einer Myopie entgegenwirken kann, ist nicht neu. Allerdings gelang es erst in jüngster Zeit und auf wissenschaftliche Studien gestützt, Empfehlungen zur Anwendung dieser Form der Myopie-Prophylaxe zu geben, die für die Praxis tauglich ist – weil sie weitestgehend nebenwirkungsfrei ist.

Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèze

Bei welchen Kindern und Jugendlichen sie in Frage kommt und wie erfolgreich sie sein kann, erläuterte Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèze von der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg auf einer Pressekonferenz anlässlich des diesjährigen Kongresses der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) in Berlin [1] .

Fast jeder zweite junge Europäer kurzsichtig

Myopie – ihr liegt ein übermäßiges Wachstum des Augapfels im Kindes- und Jugendalter zugrunde – wird per se zwar nicht als Krankheit, sondern „nur“ als Fehlsichtigkeit angesehen. Sie ist neben dem Alter jedoch der Hauptrisikofaktor für gravierende degenerative Augenerkrankungen im späteren Leben, wie Glaukom, Katarakt, Makuladegeneration und Netzhautablösung.

Und Myopie ist äußerst weit verbreitet: „In Europa wird aktuell knapp die Hälfte der Bevölkerung bis zum jungen Erwachsenenalter kurzsichtig, in den hoch entwickelten Regionen Asiens sind es sogar circa 80 Prozent“, berichtete Lagrèze. Meist beginnt der Prozess bereits im Grundschulalter.

 
Wegen ihrer möglichen Spätfolgen ist es wünschenswert, die Progression der Myopie in der Phase ihres Entstehens zu verlangsamen. Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèz
 

„Wegen ihrer möglichen Spätfolgen ist es wünschenswert, die Progression der Myopie in der Phase ihres Entstehens zu verlangsamen“, so der Ophthalmologe. Dabei hilft Tageslicht-Exposition (Spielen bzw. Aufenthalt im Freien über etwa 2 Stunden pro Tag) ebenso wie das Vermeiden eines zu geringen Lese- und Nahsichtabstands (von weniger als ca. 30 Zentimetern).

Im Rahmen klinischer Studien wurden darüber hinaus auch teilweise schon länger bekannte therapeutische Ansätze neu evaluiert. „Als am wirksamsten progressionsmindernd erwies sich dabei die Anwendung von Atropin-Augentropfen“, so Lagrèze.

Optimale Konzentration von 0,01%

Die in anderen ophthalmologischen Indikationen üblichen Atropin-Konzentrationen in Augentropfen von 0,5% oder 1% kommen hierfür allerdings nicht in Frage: Denn die durch sie bewirkten Effekte Mydriasis (mit daraus resultierender Blendung) und Akkomodationslähmung (mit Nahsichtstörung) halten in solchen Dosierungen für eine routinemäßige Anwendung zu lange an und sind daher als Nebenwirkungen inakzeptabel.

Forscher aus Singapur fanden jedoch heraus, dass sich die Myopie-Progression optimal mit täglich applizierten Atropin-Tropfen in einer Konzentration von lediglich 0,01% deutlich bremsen bzw. etwa halbieren lässt. „Seit der Publikation dieser Daten (in der „Atropine for the Treatment of Myopia 2“ / ATOM-Studie) hat sich die Anwendung niedrig dosierter Atropin-Tropfen zur Minderung der Myopieprogression weltweit sehr schnell durchgesetzt und wird zunehmend auch in Deutschland von Augenärzten verordnet“, konstatiert der Freiburger Ophthalmologe.

Myopie-Progression mehr als halbiert

Mittlerweile wurden in mehreren Ländern Empfehlungen zur Myopie-Prophylaxe mit Atropin-Tropfen unter augenärztlicher Kontrolle formuliert, so auch in einer gemeinsamen Stellungnahme des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands (BVA) und der DOG. Erst kürzlich bestätigte eine weitere prospektive, kontrollierte Studie aus Hongkong den Nutzen der Therapie.

 
Als am wirksamsten progressionsmindernd erwies sich dabei die Anwendung von Atropin-Augentropfen. Prof. Dr. Wolf Alexander Lagrèz
 

Und in einer aktuellen deutschen Fallstudie bei 56 Schulkindern (Altersspanne 6 bis 17 Jahre) hatte die Tropfentherapie mit 0,01%iger Lösung nach 12 Monaten eine Reduzierung der zuvor in diesem Kollektiv festgestellten mittleren Myopie-Progression von 1,05 Dioptrien (dpt) auf 0,04 dpt bewirkt – das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit also sogar mehr als halbiert. Allerdings gab es hier auch rund 10% Non-Responder, bei denen die Therapie keinen Effekt hatte.

Therapie bislang nur off-label

Lagrèze empfiehlt den Einsatz der Atropintropfen ab einem Alter von 6 Jahren unter der Voraussetzung einer Myopie-Progression von mehr als 0,5 dpt pro Jahr. Die Anwendungsdauer sollte zunächst 2 Jahre betragen. Zu den Effekten einer längeren Anwendung gibt es bisher noch keine verlässlichen Erkenntnisse – auch nicht, bis zu welchem Alter genau die Anwendung sinnvoll ist.

Der behandelnde Augenarzt hat die Eltern des Kindes oder Jugendlichen darauf hinzuweisen, dass es sich hier um eine (nicht erstattungsfähige) Off-label-Anwendung von Atropin handelt. Da es 0,01%ige Atropintropfen nicht als Fertigware in der Apotheke gibt, müssen die Eltern mit der augenärztlichen Verordnung eine Apotheke mit Sterilraum finden, in der die Augentropfen in der gewünschten Konzentration hergestellt werden. „Wichtig ist eine Tropfen-Zubereitung ohne Konservierungsmittel, da sonst später Probleme mit trockenen Augen auftreten können“, so Lagrèze.

Ein Tropfen jeden Abend in jedes Auge

Und so sieht die praktische Anwendung aus: Die Eltern geben ihrem Kind allabendlich vor dem Zubettgehen jeweils einen Tropfen in jedes Auge, das darauf einsetzende unwillkürliche Blinzeln sorgt für die Verteilung des Wirkstoffs.

Zwar sind auch hier akute Atropin-Wirkungen wie eine Pupillenerweiterung nachweisbar, diese sind nach Aussage des Freiburger Ophthalmologen bei einer Atropin-Konzentration von 0,01% jedoch so gering, dass sie am darauffolgenden Morgen in aller Regel keine Beeinträchtigung des Sehens mehr darstellen. Kontraindikationen für die Therapie seien bisher keine bekannt.

Um die bisher vorwiegend in asiatischen Populationen gewonnenen Erkenntnisse zur Myopieprophylaxe mit Atropin-Tropfen mit Daten aus westlichen Ländern zu ergänzen, sind Lagrèze zufolge derzeit weitere randomisierte, kontrollierte Studien in Vorbereitung – so auch eine Behandlungsstudie in Deutschland, für die die Deutsche Forschungsgemeinschaft bereits entsprechende Fördergelder zur Verfügung gestellt hat.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....