Der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 2019 geht zu gleichen Teilen an Prof. Dr. William G. Kaelin (Universität Harvard, USA), Prof. Dr. Gregg L. Semenza (Johns Hopkins University, USA) und Prof. Dr. Peter J. Ratcliffe (Universität Oxford, Großbritannien). Sie identifizierten molekulare Mechanismen, welche die Aktivität von Genen als Reaktion auf unterschiedliche Sauerstoffwerte regulieren, berichtete die Nobelversammlung des Karolinska Institutet [1]. Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen der Hypoxie-induzierte Faktor (Hypoxia Inducible Factor, HIF) und dessen Regulation.
Als Reaktion auf die Bekanntgabe der Laureaten sagte Prof. Dr. Bridget Lumb von der University of Bristol School of Physiology, Pharmacology and Neuroscience: „Modernste physiologische Forschung wie diese verbessert unser Verständnis dafür, wie unser Körper funktioniert und hilft uns so, gesund zu bleiben.“ Und weiter: „Dank dieser Forschung wissen wir viel mehr darüber, wie sich unterschiedliche Sauerstoffwerte auf physiologische Prozesse in unserem Körper auswirken.“ Dies habe enorme Auswirkungen auf viele Vorgänge, von der Heilung einer Verletzung und dem Schutz vor Krankheiten bis hin zur Verbesserung der Trainingsleistung.
Erythropoietin steuert grundlegende Schritte der Sauerstoffversorgung
Zellen von Säugetieren benötigen Sauerstoff, um in Mitochondrien aus organischen Molekülen Energie zu gewinnen. Während der Evolution entwickelten sich Mechanismen, um eine ausreichende Sauerstoffversorgung zu gewährleisten. Rezeptoren am Aortenbogen erfassen eine erhöhte Kohlendioxid-Konzentration oder eine reduzierte Sauerstoff-Konzentration (Hypoxie) im Blut. Sie leiten Reize über den Nervus vagus an das Atemzentrum weiter, und die Atmungsaktivität wird reguliert. Bereits 1938 erhielt Prof. Dr. Corneille Heymans, ein belgischer Pharmakologe, für seine Entdeckung den Medizin-Nobelpreis.
Eine weitere physiologische Reaktion auf Hypoxie ist der Anstieg des Hormons Erythropoietin (EPO) und damit verbunden eine Steigerung der Erythropoese. Grundlegende Mechanismen der Regulation waren bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Wie dieser Prozess selbst durch Sauerstoff gesteuert wurde, blieb ein Geheimnis.
Der Hypoxie-induzierbaren Faktor reguliert die Genexpression
Semenza widmete sich dieser Frage und erforschte regulatorische Mechanismen beim EPO-Gen. Mit Hilfe transgener Mäuse konnte er spezifische DNA-Segmente, die sich neben dem EPO-Gen befinden, identifizieren. Die Bereiche vermitteln Reaktionen auf eine Hypoxie. Ratcliffe arbeitete am gleichen Thema. Beide Forschergruppen fanden heraus, dass dieser Mechanismus zur Genregulation in praktisch allen Geweben vorhanden war, nur nicht in den Nervenzellen, in denen normalerweise kein EPO gebildet wird.
Anschließend suchte Semenza nach möglichen Botenstoffen. Er identifizierte in kultivierten Leberzellen einen Proteinkomplex, der sauerstoffabhängig an das zuvor identifizierte DNA-Segment bindet – den Hypoxie-induzierten Faktor (HIF) (HIF). Umfangreiche Experimente zur Reinigung des HIF-Komplexes begannen, und 1995 konnte Semenza einige seiner wichtigsten Ergebnisse veröffentlichen, darunter die Identifizierung der Gene, welche für HIF kodieren. Semenza fand heraus, dass HIF aus 2 verschiedenen DNA-bindenden Proteinen besteht, den so genannten Transkriptionsfaktoren HIF-1a und ARNT. Doch wie funktioniert der Mechanismus im Detail?
Signalmoleküle werden bei normalem Sauerstoffgehalt schnell abgebaut
Ist der Sauerstoffgehalt hoch, enthalten die Zellen sehr wenig HIF-1a. Bei niedrigem Sauerstoffgehalt steigt dessen Konzentration. Das Protein bindet an das EPO-Gen und an weiteren Genen mit HIF-bindenden DNA-Segmenten. Mehrere Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass HIF-1a normalerweise nach der Markierung mit Ubiquitin vom Proteasom schnell abgebaut wird.
Grundlegende Arbeiten zum Proteasom gehen auf Prof. Dr. Aaron Ciechanover, Prof. Dr. Avram Hershko und Prof. Dr. Irwin Rose zurück; sie erhielten im Jahr 2004 den Nobelpreis für Chemie. Wie Ubiquitin sauerstoffabhängig an HIF-1a bindet, blieb die zentrale Frage.
Überraschende Erkenntnisse aus der Krebsforschung
Antworten kamen aus einer unerwarteten Richtung, nämlich aus der Onkologie. Etwa zur gleichen Zeit, als Semenza und Ratcliffe die Regulation des EPA-Gens untersuchten, erforschte Kaelin die von-Hippel-Lindau-Krankheit (von-Hippel-Lindau-Syndrom, VHS). Aufgrund genetischer Ursachen kommt es bei Patienten zu einem stark erhöhten Risiko für verschiedene maligne Erkrankungen. Am häufigsten treten retinale, zerebelläre und spinale Hämangioblastome, Nierenzellkarzinome und Phäochromozytome auf.
Kaelin zeigte, dass es in Krebszellen, denen ein funktionelles VHL-Gen fehlt, gleichzeitig zur überraschend starken Expression von HIF-Genen kommt. Führte er ein intaktes VHL-Gen in vitro ein, normalisierte sich dieser Vorgang. Weitere Hinweise kamen aus mehreren Forschungsgruppen: VHL ist Teil eines Komplexes, der Proteine mit Ubiquitin markiert und sie für den Abbau im Proteasom markiert.
Ratcliffe und seine Kollegen fanden heraus, dass VHL mit HIF-1a interagieren kann und für seinen Abbau bei normalen Sauerstoffwerten erforderlich ist. Damit war der Zusammenhang zwischen VHL und HIF-1a geklärt. Trotzdem fehlte noch ein Teil im molekularen Puzzle: Wie steuert Sauerstoff die Wechselwirkung zwischen VHL und HIF-1a?
Jetzt konzentrierten sich die Arbeiten auf einen bestimmten Teil des HIF-1a-Proteins, von dem man wusste, dass er für den VHL-abhängigen Abbau wichtig ist. Sowohl Kaelin als auch Ratcliffe vermuteten, dass der Schlüssel zum Sauerstoffsensor irgendwo in dieser Protein-Domäne lag.
Im Jahr 2001 zeigten sie, dass unter normalen Sauerstoffwerten Hydroxyl-Gruppen an 2 spezifischen Positionen in HIF-1a angehängt werden. Diese Proteinmodifikation, Prolyl-Hydroxilierung genannt, ermöglicht es VHL, HIF-1a zu erkennen und zu binden. Dann kommt es zum Abbau durch spezielle Enzyme, die Prolyl-Hydroxylasen. Die Nobelpreisträger hatten nun den Sauerstoffsensor aufgeklärt und gezeigt, wie er funktioniert.
Grundlage mehrerer Arzneistoffe
„Dank der bahnbrechenden Arbeit dieser Nobelpreisträger wissen wir viel mehr darüber, wie unterschiedliche Sauerstoffwerte grundlegende physiologische Prozesse regulieren“, heißt es in der Laudatio weiter. Die Sauerstoff-Sensorik ermöglicht es den Zellen, ihren Stoffwechsel an einen niedrigen Sauerstoffgehalt anzupassen: zum Beispiel in unseren Muskeln bei intensivem Training. Weitere Beispiele für adaptive Prozesse sind die Erzeugung neuer Blutgefäße und die Produktion von Erythrozyten. Auch bei der fetalen Entwicklung sind die Vorgänge unerlässlich, um die normale Blutgefäß-Bildung und Plazenta-Entwicklung zu kontrollieren.
Die Sauerstoff-Sensorik ist auch für eine große Anzahl von Krankheiten von zentraler Bedeutung. So leiden beispielsweise Patienten mit chronischem Nierenversagen aufgrund einer verminderten EPO-Expression oft unter schwerer Anämie. Darüber hinaus spielt die Regulation eine wichtige Rolle bei Krebserkrankungen, um die Bildung von Blutgefäßen zu stimulieren und den Stoffwechsel für eine effektive Proliferation von Krebszellen zu verändern.
Vom Labor geht es weiter zum Patienten. Wie der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) berichtet, würden auf Basis der genannten Studien bereits neue Arzneistoffe in klinischen Studien erprobt. HIF-Prolylhydroxylase-Inhibitoren sollen zur Therapie von Anämien bei Nierenerkrankungen eingesetzt werden. Phase-3-Studien laufen gerade. Außerdem befinden sich HIF-2-alpha-Antagonisten zur Behandlung verschiedener maligner Erkrankungen in Phase-2-Studien.
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Diesen Artikel so zitieren: Medizin-Nobelpreis 2019: Wie messen Zellen eine Hypoxie? Das Schlüsselmolekül hat therapeutische Relevanz - Medscape - 7. Okt 2019.
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